Freundeurlaub, ein Wettrennen und Magyarország


Hörend mitradeln hier:


Jetzt kommt die Aufregung hoch, jetzt da wir fürs Abendessen einkaufen, diesmal nur für uns zwei und uns gleich verabschieden von den letzten drei Freunden, die fast bis zur tschechischen Grenze mitgeradelt sind.

 

Intensive Tage liegen hinter uns. Bei Schnee-Ekelwetter verlassen wir am 1. April unsere schöne kleine Ebertystraßen-Hinterhofbude mit dem Wissen, hier nicht mehr einziehen zu werden. Viele Freunde und Familienmitglieder kommen am Ostersonntag zum Ciao-Kakao-Frühstück in Berlin. Die Radtour von Berlin bis Bestensee bekommt trotz Schneeregen zumindest alkoholtechnisch Himmelfahrts-Charakter, noch ein toller trubeliger Abschiedsabend bei Hannas Eltern. Bei Null grad schlafen wir gerne heute noch nicht im Zelt. Wir starten eine gemeinsame Ostermontags-Fahrradtour und abends brennt das erste Lagerfeuer, drei Zelte stehen am Fluss, sogar Nichte Baby Maula guckt, wie ihr das mit dem Zelten so passt. Gut, dass sie nicht weiß, dass ihr Familienzelt kurz vorm Zusammenbruch steht. Gemütlich geht es los gen Süden durch den Spreewald und vorbei an riesigen gefluteten Lausitzabbaugebieten.

 

Also dann Prost! Ein schnelles gemeinsames Kurzbesäufnis mit Jule, Marci und Pichler vor dem Lidl-Pfandautomaten, viel Umarme, kleine Geschenke, Bautzner Senf. Und nun aber los. Rein ins miese Wetter. Wir nehmen jetzt nicht den Zug nach Hause, auch wenn es verdammt gemütlich erscheint. Wir radeln los und müssen einen Schlafplatz finden. Die erste Nacht zu zweit, schön symbolisch an der Spreequelle, auch wenn sich diese als wirklich hässliches Gefallenendenkmal des Ersten Weltkriegs entpuppt.

Und jetzt? Jetzt heißt es: Kilometer schrubben! Wir haben einen Termin einzuhalten. In Acht Tagen sind wir in Budapest verabredet.

 

Hinter Zittau wird „Hallo!“ zu „Ahoi!“. Wir strampeln, kommen in Schwung, erste Hügel werden erklommen und runtergesaust, Geschwindigkeitsrekorde ständig neu gebrochen, denn bis jetzt stand ja noch nicht so viel auf dem Tacho. Mit Kraft in den Pedalen und Freilauf im Kopf starten wir, lesen noch nichts und genießen die Bewegung draußen und den permanenten Sonnenschein. Von morgens bis abends fahren wir, dank spitzen Kartenmaterial nur kleine Wege. Aus dem freiheitsversprechenden Wind in den Haaren ist jedoch ein ganz gemeiner, kräftezehrender Gegenwind geworden. Einfach so bergab rasen ist nicht mehr drin, nein, wir kommen bergrunter mit strampeln nur noch mit Mühe auf 15km/h. Vier ganze Tage lang fahren wir in Richtung Süd-Ost- die gleiche Richtung, aus der der fiese Wind uns entgegenfegt, vorbei am großen Stausee mit Wind- und Kitesurfern. Leider sind wir nicht auch auf dem Wasser unterwegs. Wir haben das falsche Fortbewegungsmittel gwählt. Der Tacho knackt selten die 10km/h. Dennoch schaffen wir 100 km am Tag, wir müssen doch pünktlich in Budapest ankommen. Durch die Sudeten, ein Stück Switava entlang und über Brno.

 

„Pass auf Hanna, heute werden wir noch eingeladen.“ Und schon sitzen wir bei Helena und Wenzel am Tisch. Wenzel heißt eigentlich Vaclaw, aber die Deutschen lesen das V nicht als W und sprechen das C wie ein K und somit hatte sich Watzlaw für die deutsche Variante Wenzel und gegen „Faklaw“, so wie es die Deutschen aussprachen, entschieden, als er und Helena damals in Stuttgart ihr neues Leben angefangen haben. Von der Reisegruppe nach München hat sich das unverheiratete Paar einfach abgesetzt nach Westdeutschland. Nach 30 Jahren hat sich ihr Leben in Deutschland verändert. Wenzel ist jetzt Rentner nach vielen guten Jahren bei Porsche und in der damals noch neuen, schicken Siedlung, fühlten sich die zwei schon lange nicht mehr wohl. Zu viele würden dort nur noch rumhängen im Viertel und alles sei ganz heruntergekommen. Die zwei sind also nach Jahrzenten wieder zurückgekommen in ihre Heimat. Wir haben Glück und das Essen, der lange Abend, das gemütliche Bett, das leckere Frühstück... all das belohnt unsere Anstrengungen der letzten Tage.

 

Österreich streifen wir nur ganz kurz, aber verlassen es immerhin nicht ohne einen Wiener Kaffee mit Schlagsahne. Hier im Dorf hat der Einkaufsladen mittags geschlossen und die Kneipe ist voll, aber nicht ganz so voll wie die Männer, die in ihr sitzen. Joa mai da bekommens mir sogar einen super leckeren regionalen Weißwein ausgegeben.

 

Und wieder ein Länderwechsel, ein Stück EuroVelo 13, den „Iron Curtain Trail“ durch die Slowakei und hä? Irgendwas stimmt hier nicht mehr. Arnes Achillessehne streikt.

 

Wir merken keinen Fahrtwind mehr, hören keine Geräusche von draußen, nehmen keine Gerüche mehr auf und meine Güte, ganz schön schnell zieht die Donaulandschaft zwischen Bratislava und Budapest an uns vorbei.

Wir kommen auf der Pester Seite, westlich der Donau, an und mit der Ankunft in Ungarns Hauptstadt beginnt für uns der Sommer. Das Thermometer ist auf 30 Grad geklettert. Dennoch, die Enttäuschung darüber, nach so viel Anstrengung trotzdem mit dem Zug Budapest erreicht zu haben, verschwindet nicht sofort. Die Kategorien unserer Stadt-Land-Fluss- Variante spiegeln das doch ganz gut wider: „Reiseabbruchsgrund“, „Fahrradpanne“, „Kulturschock“ und „Dinge, die man vermisst“. Aber nach einem Sommertag im Varosliget, dem alten „Stadtwäldchen“ Budapests, kommt die Sommerstimmung zu uns, wirken die vielen fröhlichen Stimmen der Menschen um uns herum auf uns ein.

 

Der alte Stadtpark jedoch wird zukünftig weniger Raum zum Entspannen bieten und viele der großen, alten Platanen werden den Bauvorhaben der Regierung weichen müssen. Hier soll ein Megaprojekt verwirklicht werden, ein neues Museumsviertel wird gebaut, trotz zahlreicher Bürgerproteste und Großdemonstrationen. Wir sehen nur noch Überbleibsel der Proteste und eine große abgezäunte Baustelle.

 

Die Budapester Häuser und Straßen haben es uns angetan. Vor allem die innerstädtische Pester Seite strahlt für uns eine besondere Schönheit aus. Jedes Haus an sich ist ein Kunstwerk. Die reichdekorierten Prachtfassaden verblüffen in ihrer Vielfalt, jede von ihnen ein Unikat. Sie beeindrucken durch Form. Kleine Türmchen, etliche Zierelemente. Geländer und Fenstergitter sind reich verschnörkelte Schmiedekunstwerke. Auf dem alten Prunk haben sich Jahrzehnte an Straßenstaub niedergelassen, die Fassadenfarben sind vergraut. Der Putz ist eingerissen, die Fassade teilweise bis auf die Grundmauer verschwunden. Charakteristisch sind die Innenhöfe mit den „Pawlatschengängen“, den offenen Außenfluren, die auf jeder Etage wie ein riesiger Balkon den kompletten Hof umrunden. Auch wenn die Straßen wenig begrünt sind, wirken sie keineswegs kahl noch kühl. Zudem beleben die vielen Oberleitungsbusse die Straßen mit ihrem eigenen Charme. Die Stadt lädt zu langen Spaziergängen ein, doch können diese für Arne leider nicht ganz so lange ausfallen, wie gewünscht.

 

Wir machen langsam und genießen gemeinsam mit Marius, der die Strecke mal eben mittels kurzen Flug in seinen Tag integriert hat, ausgiebige „Soproni“-Bierpausen. Wir beradeln die Donauinsel und erlaufen uns die hügelige Budaseite. Stets mit Päuschen und Gemütlichkeit.

 

So gemütlich machen es sich Zehntausende Ungarn heute, am Samstag, den 14.April, nicht. Sie reagieren gemeinsam auf das Wahlergebnis vom 8. April, welches Viktor Orbans Fidesz-Partei erneut die Mehrheit bescherte. „Viktator“ rufen die vielen Demonstranten. Die Kontrolle über Rundfunk- und Fernsehen und zahlreiche Printmedien wirkte. Ebenso die Wahlpropaganda gegen Migration und Massenzuwanderung. Dabei hat Ungarn die Aufnahme von Geflüchteten verweigert. Absurd und bitter wirken da die Propagandaplakate und sie erschrecken in Größe und Anzahl. Gleichzeitig wandern aufgrund der politischen Situation etliche Ungarn aus.

 

Mit Humor startete die Ungarische Partei des zweischwänzigen Hundes (die MKKP) ihre Gegenkampagne. Überall in den ungarischen Städten begegnen uns ihre Plakate und Aufkleber. Sie parodieren die Angstmache, warnen z.B. davor, dass Wasserwerke LSD ins Trinkwasser untermischen könnten. „Europe, we still love your money“ heißt es da auch und klar, sie versprechen „Ewiges Leben“, „Freibier“ und „vollkommene Steuerbefreiung“. Ein Hund, der vor Freude so schnell mit dem Schwanz wedelt, dass es aussieht, als hätte er gleich zwei davon. Mit Spaß gegen bittere Politik.

„Bitte, bitte keine Politik!“ Fani will über was anderes reden. Wir sind zu Gast bei Tibor, Csilla, Fani und Rosi in Szentes.

 

Budapest liegt jetzt bereits etwa 150 km hinter uns. Und irgendwie fühlt sich die Reise seit Budapest ganz anders an. Wir fahren ein Stück die Donau weiter und ich entscheide mich, mit Arne weiterzufahren und nicht nach Hause zu fliegen. Mein lieber Opa Bruno ist verstorben. Aber wir haben uns so schön von ihm verabschieden können, Tage vor unserer Abreise, nochmal abends am 1. April und sogar am 2. April nochmal, bevor wir Bestensee verlassen haben. Die Entscheidung fühlt sich, seit der Budapester Flughafen außer Reichweite ist, richtig und gut an. Ich kann mich jetzt ganz auf die Reise einlassen. Wir haben keinen Termin mehr. Keine Verabredung. Haben keinen Tagessoll mehr zu erfüllen. Wir schauen nicht mehr ständig auf den Tacho. Wir fahren jetzt einfach Richtung Rumänien und lassen uns überraschen.

 

Und jetzt fühlt sich unsere Reise so richtig nach Freiheit an. Um uns herum sind die Bäume explodiert. Blütenprachten in allen Farben schmücken unseren Weg.

 

„Was ist heute? Mittwoch oder so? Stell dir vor andere Leute sitzen jetzt auf Arbeit oder so.“ Wir frühstücken an einem traumhaften Plätzchen am überfluteten Tisza- Ufer zwischen Kecskemet und Szentes und wir realisieren gerade, dass unser Alltag jetzt Freizeit heißt und es uns ganz schön gut geht.

 

Unser nächster Schlafplatz könnte aber mal endlich an einem See sein. Wir suchen uns auf der Karte einen raus, hinter Szentes könnte das was werden. Könnte aber auch nur irgendein blöder Industrietümpel sein. Wir kommen an und sofort fallen uns die Kites und Windsurfsegel auf.

 

Komplett kaputt gesurft knallt sich ein Typ neben uns ins Gras. Sein lustiger, selbstgebauter Surf-Fahrradanhänger ist uns direkt aufgefallen. Und wir fallen jetzt auch ihm auf. Zwei Radfahrer aus Deutschland bekommt er mit und schon telefonieren wir mit seiner Frau, die uns herzlichst auf Deutsch einlädt. Halb Acht gibt es Essen, wir können gerne früher kommen. „Gulasz!“, sagt er seiner Frau, ah nee Vegetaria, schnell wird umgeplant. Toth Tibor zückt sein Monokel, lässt uns seine Nummer und Adresse da. Heißt der Mann jetzt Toth? Wir stehen mit Blümchen vor dem Haus der Familie Toth, ja in Ungarn wird zuerst der Familienname, dann der Vorname geschrieben. Tibor, Csilla und ihre beiden Töchter Rosi (15) und Fanni (17) empfangen uns strahlend. „Dürfen wir ihre Taschen tragen?“, fragen uns die Mädchen. Csilla ist Deutschlehrerin, auch die Töchter lernen Deutsch in der Schule und sind zwei ganz tolle, offene, selbstbewusste und interessierte Mädchen. Tibor ist Mathelehrer am Gymnasium in Szentes, die Schulflagge wedelte an seinem Surfwagen. Er organisiert viele Schulausflüge in die Natur. Wir sind also wieder in der Küche in Szentes, in der wir nicht viel über Politik reden sollen. Wir reden und lachen viel und schließlich packt Rosi sogar ihr Cello aus und wir bekommen noch ein ungarisches Volkslied zu hören.

 

Wir spüren das angenehm warme ungarische Thermalwasser. Tibor hatte am Abend zuvor zwei Tickets fürs örtliche Thermalbad gezückt, davon hat er stets ein ganzes Bündel zu Hause, eigentlich für die Schüler bestimmt. Wir genießen den sonnigen Morgen im warmen Becken, einige Rentner beginnen den Tag ebenso entspannt. Ein schönes Gefühl, richtig sauber zu sein.

 

Und wir lernen die Schule kennen, wurden vermittelt an die Theaterklasse (auf Deutsch) und dürfen zuschauen. Im Schulflur, in dem Fotos sämtlicher Schüler aller Jahrgänge aushängen, entdecken wir sogar Csilla.

 

Hier würden wir gerne länger bleiben, aber uns treibt es weiter, über ungarische Orte, deren Namen wir nicht aussprechen können. Vorbei an knallig gelben Rapsfeldern, an vollen Fliederbüschen und unzähligen Fasanen in Richtung Rumänien.