China - Kashgar


Hörend mitradeln:


Der komplette Inhalt unserer Satteltaschen liegt ausgebreitet vor den Grenzkontrolleuren der Volksrepublik China. Die Tüte Rote Linsen wird geöffnet. Eine der verdächtigen roten Perlen wird nun genauer unter die Lupe genommen. Die uniformierte Dame richtet das Gerät, mit dem sie gerade Shampoo, Kettenöl und Creme auf gefährliche Inhaltsstoffe untersucht hat, nun direkt auf die kleine Linse. Sie nickt. Von der Linse scheint keine Gefahr auszugehen. China begrüßt uns mit geballter Paranoia und Überwachungstechnik. Jedes einzelne Blatt Papier, jede unbeschriebene Postkarte wird betrachtet. Computer, SD-Karten, Kamera, Aufnahmegerät, E-Book-Reader, Smartphones- alles wird durchsucht. Die Spy-App wird auf unseren Telefonen installiert.

Checkpoint der Zweite – 140 Pflichttaxi-Kilometer später: „Nihao“ lacht uns die Sonne des ‚Sunshine Service‘ entgegen. Zum zweiten Mal heute müssen wir Satteltasche für Satteltasche ausleeren. Wir suchen nach dem Sinn der vorherigen Kontrolle und werden eins mit den schwarzen Ledersesseln. Zwischen 16.30 und 20 Uhr sind heute genau fünf Menschen in diese riesige, überdimensionierte Halle mit sehr viel Überwachungstechnik und sehr vielen Mitarbeitern gekommen, um die Grenze zu passieren. Drei davon sind direkt 16.30 rüber.

Uff.. der Uniformierte schnauft schwer auf, nachdem der Computer die Karten der nächsten Runde Solitär aufgedeckt hat. Wir bleiben bis zum Feierabend hier, gemeinsam mit den etwa 30 Beamten, die sich bis dahin noch irgendwie beschäftigen müssen. Ganze dreieinhalb Stunden Zeit nimmt sich der IT-Spezialist für das Anschauen unserer Urlaubsbilder. Das Bedürfnis in mir wächst, das Schild mit der breit lächelnden nihao-Sonne vor uns zu zertreten. Nach insgesamt über zehn Stunden Grenzprozedur haben wir den Einreisestempel endlich im Pass und werden in die Dunkelheit entlassen.

Wir radeln los und die wiedergewonnene Bewegungsfreiheit fühlt sich gut an. „Halt - Polizeikontrolle“ nur 5 Minuten später. Wir werden mit der Passport-App kontrolliert. Neben der Straßensperre stellt sich ein Trupp Polizisten in zwei Reihen auf. Auf Kommando beginnen die Uniformierten im wild blinkenden Blaulicht mit Hüftkreisen. Die Nächte in der Provinz Xinjiang sehen anders aus. Die Dunkelheit ist vom Dauerblaulicht durchbrochen.

 

Die westliche Provinz Xinjiang ist die größte Provinz Chinas, flächenmäßig zwölfmal so groß wie Deutschland, aber mit etwa 23 Millionen Einwohnern dünn besiedelt. Riesige Wüstenfläche, Bergketten und Gebirgsausläufer des Pamirgebirges und des Himalayas, Grenzen zu Pakistan, Indien, Afghanistan, Tadschikistan, Kirgistan, Kasachstan, Russland und die Mongolei. Hier, weit weg von Peking, wohnen Menschen mit eigener Kultur. Die Stadt Kashgar ist über 4000 km von der Hauptstadt entfernt, mehrere Zeitzonen liegen zwischen Chinas Westen und der Ostküste. Aber in China gilt überall Pekingzeit. Im Winter wird es hier erst ab zehn Uhr morgens hell.

 

Die kurze Strecke von Ulugqat bis Kashgar fahren wir auf der Autobahn, denn Radlerfreund Thorve hatte uns vorher schon gewarnt. Auf der Landstraße hatte er 7 Kontrollen mit bis zu 40 Minuten Wartezeit und sogar eine Polizeieskorte für 40 km. Nachts verkriechen wir uns zum Schlafen in den kleinen Durchgang unter der Autobahn, hier findet uns heute niemand mehr.

 

Wir fahren auf der durchgängig eingezäunten Autobahn. Vorbei an Kamelen, an kleinen Höfen und Orten, in denen Hirten mit ihren Ziegen zu sehen sind. Nach 8018 km geht Arnes Hinterrad die Puste aus, der erste Platten auf der Reise.

Wir poltern über die Huckel der Rollerspur in Kashgar. Aber bis auf das Gehupe ab und an hören wir von den Mopeds nichts. Beinahe geräuschlos kommen die Elektroflitzer von hinten angesaust oder seitlich reingedrängelt. Auf der Rollerspur ist der Winter eingebrochen. Die chinesische Mopeddecke ist ausgebreitet, die wie eine große umgedrehte dicke Winterjacke Schoß, Arme, Hände und Beine vor dem kalten Fahrtwind schützt. Jede, jeder und alles ist auf den vielen Elektromopeds unterwegs. Feingeschminkte Damen mit hochhackigen Schuhen, manche der Gesichter sind so weiß geschminkt, dass sie uns ans Theater erinnern. Rauchende alte und junge Männer. Beine sind überschlagen. Beine baumeln seitlich vom Roller herab. Im Rollerfußraum sitzen, hocken und stehen Kinder in allen Größen, manche merkwürdig eingequetscht. Andere transportieren große Fleischberge auf der Fußablage. Sehr viele Roller, sehr wenige Räder, ab und an motorisierte, schwere Transportdreiräder. Wir rollen gemeinsam auf der Zweiradspur durch Kashgar- von Überwachungskamera zu Überwachungskamera.

 

An jeder Straßenecke sind Polizisten postiert. Die Dichte der Polizeistationen ist unfassbar hoch. Einsatzfahrzeuge sind unentwegt auf der Straße zu sehen- stets mit Blaulicht. Kasten- und Gitterwägen, gepanzerte, schwere Fahrzeuge. Polizisten und Soldaten sind ausgerüstet mit Schildern, Schlagstöcken, Metallspießen, Menschenabstandshaltern und diversen Feuerwaffen. Die ganze Stadt ist übersäht von Schranken, Barrieren, Absperrungen, Schiebetoren und Zäunen. Auf Mauern sind Glassplitter oder Stacheldraht. Wo man hinsieht: Gitter. Vor jedem Restaurant, jedem Laden und noch so kleinem Stand sind Metallgitter angebracht, die sich nur von innen per Knopfdruck öffnen lassen. Riesige Barrieren aus dicken Metallrohren stehen wie Schutzwälle vor öffentlichen Gebäuden und Banken. Schulen und Kindergärten sehen aus wie Hochsicherheitsgefängnisse. Kinder spielen im großen Käfig, der Blick zum Himmel ist vergittert. Tausende Kameras überwachen jeden Winkel der Stadt. Tankstellen sind streng bewacht und abgeriegelt. Erst nachdem alle Beifahrer das Auto verlassen haben, der Autobesitzer sich ausgewiesen hat und der Kofferraum kontrolliert worden ist, darf getankt werden.

 

Die Stadt ist ein einziger Hochsicherheitstrakt. Ein riesiges Netz an ‚Sicherheitsvorkehrungen‘ ist bis in die allerletzten Alltagswinkel gespannt worden und macht Kashgar zu einem riesigen Freiluftgefängnis. Kontrollpunkte, an denen Anwohner ihre Ausweise vorzeigen müssen. An jeder Straßenunterführung gibt es die dauerhaft piependen Metalldetektoren und den obligatorischen Gepäckscanner, der unentwegt Handtaschen und Rucksäcke durchleuchtet. An jedem Eingang zu einer Straßenunterführung sind drei Polizisten stationiert. Bei einer normalen Kreuzung sind das insgesamt 24 Beamte.

Auf dem Bürgersteig werden Kommandos gebrüllt. Menschen in Alltagsklamotten mit roten Armbinden haben sich aufgestellt. Jeder stützt sich auf seinen hüfthohen großen Holzknüppel. Die tägliche Choreografie wird durchgeführt- schön synchron. Kommando- Schritt nach vorne- Knüppel in beide Hände. Knüppel nach vorne stoßen- zurück, nach unten. Drehen. Immer und immer wieder. Die Übung ist beendet- zurück in den Alltag. Jeder schlurft, den schweren Holzknüppel in der Hand, zurück zu seinem Laden oder Hauseingang. Der Knüppel wird wieder in die Ecke gelehnt. Bis zur nächsten Übungseinheit. Zwei knüppelbewaffnete aus der Gruppe leisten noch Knüppeldienst in Warnweste, stehen den ohnehin viel zu zahlreich postierten Polizisten zur Seite. Ein, zwei Stunden neben der Polizei stehen und ins Leere starren.

 

Mehrfach täglich in der Stadt sehen wir diese „Übungseinheiten“, manchmal sind die Holzknüppel durch abartig brutale Selfmade-Metallstangen ersetzt, an deren Enden viele kleine Metallspitzen angeschweißt wurden. Die Fotos, die wir von der Allzeit-Bereit-Übung machen, sind gerade mal 30 Sekunden auf der Kamera gespeichert. Schnell stürmen zwei Polizisten auf Arne zu. Der will mit der Kamera zwei Schritte auf sie zugehen, da schreien sie panisch und hektisch auf und gebieten ihm Einhalt. Abstand halten und stehen bleiben. Fünf Sekunden später kommt ein weiterer Polizist auf seinem Moped angesaust. Kamera her- Fotos zeigen- alles löschen.

1949 wurde das Gebiet der Provinz Xinjiang von China erobert und besetzt. Die autonome Provinz Xinjiang ist ursprünglich Gebiet verschiedener muslimischer Turkvölker, v.a. Kasachen und Uiguren. Viele der hier lebenden Menschen haben ihre eigene Kultur und Sprache, sind muslimischen Glaubens, mit eigenen Traditionen. Die chinesische Regierung möchte die Kultur sinisieren- chinesisch formen. Gezielt werden in der Region Han-Chinesen angesiedelt, so können aus Mehrheiten Minderheiten werden. Spannungen und Auseinandersetzungen in der Region wuchsen mit wachsender Diskriminierung und spätestens seit Terroranschlägen in China steht die gesamte muslimische Bevölkerung Xinjiangs unter Generalverdacht. Die Bevölkerung in Xinjiang wird nach ihrer Vertrauenswürdigkeit in drei Gruppen geordnet. Vertrauenswürdig. Neutral. Nicht vertrauenswürdig. Der Grad der Vertrauenswürdigkeit wird schnell ermittelt z.B. aus den aussagekräftigen Kriterien wie Parteimitgliedschaft oder Religionszugehörigkeit. Der Generalverdacht, unter dem Muslime stehen, rechtfertigt die gezielte Überwachung. Sich in Xinjiang des religiösen Extremismus verdächtig zu machen, dazu bedarf es nicht viel: ein langer Bart; halal essen; einen Gebetsteppich oder einen Koran besitzen reicht schon aus.

 

Und zur ‚Wahrung der Sicherheit‘ und für den ‚Kampf gegen den Terror‘ gibt es eine ganze Reihe von Maßnahmen. Umfangreiche Überwachungstechnik. Riesige Datensammlungen aller Personen ab 12 Jahren inklusive DNA-Informationen und Fingerabdrücken. Die Pflicht, sich als verdächtige Person eine Überwachungs-App auf seinem Telefon installieren zu müssen. Wir lesen von sogenannten ‚Familienmitgliedern‘, Regierungsbeamten, die drei Nächte pro Monat in verdächtige Familien gehen und dort übernachten. Wir lesen von Umerziehungslagern, die gerade offiziell von der Regierung bestätigt wurden als „Berufsbildungszentren und andere Bildungs- und Transformationsinstitutionen“, in denen vom Extremismus beeinflusste Personen ‚lernen‘. Dort werden nach Schätzungen derzeit bis zu einer Million Menschen gefangen gehalten. Berichte von körperlicher und geistiger Folter. ‚Gelernt‘ wird kommunistische Propaganda. Lieder, in denen Mao oder Generalsekretär Xi Jinping verehrt werden, müssen gesungen werden. Gefangene berichten, dass sie Alkohol trinken oder Schweinefleisch essen mussten. Bestraft werden jene, die nicht eifrig ‚lernen‘. Auch in Kashgar gibt es diese Umerziehungslager.Wir lesen von unzähligen, verschwundenen Familienmitgliedern und von deren Familien, die nicht wissen, wo ihre Angehörigen stecken und was mit ihnen passiert. Das Vorgehen gegen die muslimischen Minderheiten hier, das seit Jahren stattfindet, hat sich laut Berichten extrem verschärft, seit dem Chen Quanguo, der zuvor in Tibet stationiert war, im August 2016 Parteisekretär Xinjiangs wurde.

Die Reiseführer schwärmen noch von Kashgars verwinkelter Altstadt, die über zweitausend jahrelang gewachsenen ist. Von kleinen Gassen mit ihren Häusern aus Lehm und Holz, historische Bilderbuchstadt, traditionelle Handwerkskünste, dampfendes Fladenbrot. Seidenstraßenromantik. Kashgars Altstadt, Mittelpunkt der Uigurischen Kultur und Religion.

 

Von dem „Kairo des Ostens“ ist so gut wie nichts mehr übrig. 85 Prozent der Altstadt wurden in den letzten 10 Jahren dem Erdboden gleichgemacht. „Die chinesischen Behörden rechtfertigen das Projekt mit dem Schutz der Bevölkerung vor Erdbeben, einer Verbesserung ihrer Lebensbedingungen sowie dem Mangel an Löschwasser im Falle eines Großfeuers.“, heißt es im Bericht der Gesellschaft für bedrohte Völker. Also wurden alte Häuser, die gerade durch die abpuffernden Materialien Lehm und Holz bereits etliche Erdbeben überstanden haben, gnadenlos abgerissen und ihre Bewohner in große starre Betonwohnblocks umgesiedelt, denen übrigens weitaus weniger Erdbebensicherheit nachgesagt wird. Eine Katastrophe für die Einheimischen und die Stadt. Die Bulldozersanierung hinterlässt charakterlose Betonklotzbauten und einen kleinen Fleck geleckte, neu aufgebaute Altstadt. Ein touristisches Disneyland, in dem sich Touristen diese interessante Minderheit Uiguren anschauen dürfen. Granatapfelsaft schlürfen, dem Kupferklopfer auf die Finger schauen, Lammspieße probieren, Fotos vor der Moschee machen, eine lustige und farbenfrohe Uigurische Kopfbedeckung kaufen. Die Fassade der Uigurischen Kultur wird hier für den Tourismus aufrechterhalten. Die gleichzeitige Zerstörung und Vermarktung der Kultur ist gruselig.

 

Beim See gibt es noch ein letztes kleines Stück alte Altstadt. Wie eine Insel ragt das Viertel inmitten plattgewalzter Fläche empor. Wir laufen vorbei an Schutt und Resten, Spielzeug, Küchengeräten, Möbeln. An vielen Zeugnissen, dass hier vor kurzer Zeit Menschen gewohnt haben an diesem Ort, der jetzt Geisterstadt ist. An den wenigen Gassen, die hineinführen, sind Sicherheitskräfte stationiert. Die Gassen führen nicht mehr hinein. Hier geht niemand man mehr ein und aus. Die alten Holztüren der verlassenen Häuser sind mit großen roten Kreuzen markiert.

Der offizielle Name „Uigurisches Autonomes Gebiet Xinjiang“ klingt da wie eine bittere Verhöhnung. Wir sind Zeugen und Zuschauer und sehen doch vieles nicht. Um uns der Polizei- und Überwachungsstaat. In uns das Grauen der Berichte und Artikel. Wir haben so viele Fragen. Und wir wissen, dass wir niemanden auch nur irgendetwas fragen können, denn damit würde man die Menschen hier in ernsthafte Schwierigkeiten bringen. Ein kaum zu beschreibendes Gefühl macht sich in uns breit. Hilflosigkeit. Unfähigkeit, mit der Situation umzugehen. Wir lesen vom ‚Kulturellen Genozid‘, der hier stattfinden soll. Und die Realität, die wir draußen sehen, gibt uns keinen Anlass, an diesen Berichten zu zweifeln.

 

Unsere Zeit in China ist begrenzt. China ist zu groß, um die ganze Strecke bis Hong Kong mit dem Fahrrad zu fahren. Wir stehen am Ticketschalter im Bahnhof von Kashgar. Die Anzahl der noch vorhandenen Tickets für unseren Zug an der großen Anzeigetafel vor uns schrumpft schnell, während wir anstehen. Um uns herum wird gedrängelt und geschimpft. Zweimal Hardsleeper nach Chengdu. 50 Stunden Fahrzeit. 4000 km. Ein Opinel-Messer hat es nicht mit uns durch die Sicherheitskontrolle geschafft und wurde entsorgt.

 

Wir liegen auf unseren Liegen, im Fenster die ewige Wüste. Am nächsten Morgen der Blick von der Liege nach draußen: Immer noch Wüste. Nach 36 Stunden. Das gleiche Bild. Die Luft riecht nach Instantnudelsuppe und Formfleisch. Wir haben mit Abstand den kleinsten Verpflegungsvorrat mitgebracht. Der Speisewagen rollt hin und her.