Mit Gauchito Gil durch Argentinien


Hörend mitradeln:


Argentiniens Hauptstadt am Rio de la Plata- wie reingeschleudert landen wir hier im bunten Buenos Aires. Großstadtdunst statt „gute Luft“, wie es der spanische Name verheißt. Es riecht nach Abgasen, Hundekacke und Empanadas, den gefüllten Teigtaschen. Spanische Worte um uns herum: 'ofertas' auf Werbeschildern und Geschäften, Schlagzeilen auf den Titelblättern der 'diarios'.  Die für die 'Porteños', die Bewohner von Buenos Aires, so selbstverständlichen spanischen Worte, verdeutlichen uns wie nichts anderes den Anfang der kommenden Monate in Südamerika. Um uns herum nun die Straßen von Palermo, Recoleta, Retiro, La Boca und San Telmo. Alltagsgewimmel zwischen altpariser Häusern und deren zerbröckelten Fassaden: Autos bewegen sich nur langsam durch die Stadt der Einbahnstraßen. Fahrräder sind hier auf den Radwegen schneller unterwegs. Konsequent wurde einer Seite der Parkraum abgeknipst und in abgetrennte Radwege umgewandelt, auf denen die Radler in beide Richtungen gemächlich durch die Stadt gurken. Fahrradfahren ist hipp auf den flachen Straßen von Buenos Aires, aber nicht mit Eile verbunden. Sergio allerdings pedalliert mit seiner alten Gurke auf der Stelle, die Hände weg vom Lenker. Er ist konzentriert bei der Arbeit. Das Hinterrad ist aufgebockt und mittels Riemen mit einem Schleifstein verbunden. Sergio gehört der Gruppe der Messerschleifer an, die durch die argentinischen Großstadtstraßen ziehen und mit ihrem speziellen Pfiff auf sich aufmerksam machen. Der Messerschleifer wirkt wie aus einer anderen Zeit, als würde er die Menschen unbewusst mit seinem Dasein in ihre Stadt aus Kindheitstagen zurückholen. Und er ist ein Vertreter der vielen Menschen, die hier in Buenos Aires mit kleinen Geschäftsideen irgendwie versuchen, über die Runden zu kommen. 

Heute ist vom Juni-Winter nichts zu merken. Die Sonne wärmt die Stadt tagsüber auf. Der Spielplatz ist sonntags rammelvoll. Die halbverrosteten und unaufhörlich schwingenden Schaukeln beschallen den Platz bis es dunkel wird. Bunte Zuckerwattebausche warten auf Kindermünder. Auf den Parkbänken wird Yerba-Mate aus den klassischen Mate-Tassen getrunken: den traditionellen, faustgroßen und runden Kalebassen. Die kleinen Gefäße aus Kürbis sind verziert mit Schnitzereien. In dem Mate-Aufguss steckt der verschnörkelte, silberne Trinkhalm, an dessen Ende ein kleiner Filter verhindert, dass die zerhäkselten Mate-Blätter miteingezogen werden. Leute verkaufen ihre selbstgebackenen Teigtaschen für kleines Geld. Die Sonntagsmärkte sind voll, in San Telmo versammeln sich die Straßenkünstler und bringen Musik, Tangotanz und Minitheater aufs Kopfsteinpflaster.

Das große „E“ blinkt blau und rot. Wir sollen unsere Räder besser in einem der Estacionamientos stehen lassen, den bewachten Parkhäuser , die zu Hunderten in der Innenstadt zu finden sind. Für wenige Pesos bleiben die Räder jetzt im musikbeschalltem Keller. Sebastian ist einer der vielen Männer, die den Tag im dunklen Estationamento verbringen. Sein Bruder fährt die Autos auf die richtigen Plätze, Sebastian kassiert ab. Eigentlich ist er Chemiker. Aber seine Lehrtätigkeit an der Universität brachte im so wenig Geld ein, dass er jetzt hier im besser bezahlten Parkwächterjob festhängt. Unzufrieden in Argentiniens Dauerkrise hat er bereits Pläne, mit seiner Familie das Land zu verlassen.

Tatsächlich liegt auf dem alten Glanz von Buenos Aires eine generationendicke Staubschicht. Die Zeiten, in denen die argentinische Hauptstadt schiffeweise europäische Migranten angelockt hat, sind lange vorbei. Zwischen dem späten 19. Jahrhundert bis etwa 1930 sind allein ca. sechs Millionen Menschen von Europa nach Argentinien gekommen. Den Atlantik zu überqueren für ein besseres Leben: neben den Vereinigten Staaten von Amerika war das hoffnungsversprechende, weit entfernte Argentinien das zweitbeliebteste Zielland der großen transatlantischen Migrationsbewegungen. Insbesondere Menschen aus Spanien und Italien, aber auch aus Deutschland, Frankreich oder Polen kamen. Fast alle stiegen sie hier am Rio de la Plata in Buenos Aires von Bord und betraten das Land der Hoffnungen und Versprechen. Aber viele, die kamen, konnten nicht in die schönen Straßenzüge des Zentrums ziehen, in die reich verzierten prachtvollen Häuser mit den verschnörkelten Balkonen. Und viele haben es nie aus den engen Behausungen der Arbeiter- und Migrantenviertel herausgeschafft.  

Dieser Menschenmix war es auch, der dem Tango Argentino seinen Klang gegeben hat. In den Migrantenvierteln der Stadt fanden sich Rhythmen und Instrumente aus unterschiedlichsten Ländern zusammen,  gepaart mit Heimweh und der Sehnsucht nach Liebe, gepackt in Klänge und melancholische Texte. Hier erfand sich der Tango immer wieder neu, verließ die verruchten Bordelle und wurde salonfähig.Von den Menschen, die wir kennenlernen, kann zwar niemand Tango tanzen, die Musik in der Hauptstadt des Tango ist dennoch überall zu vernehmen. Irgendwo ist immer ein Tangokonzert. Heute ist es ein wenig düster: Im Club Atlético Fernández Fierro hat das Tangoorchester sein Heimkonzert. Die vier Bandoneonspieler ziehen synchron ihre quadratischen, akkordeonähnlichen Instrumente unter vollem Körpereinsatz weit auseinander. Sie biegen das lange Bandoneon übers Knie. Schweißperlen tropfen auf die Instrumente.  

Von den prachtvollen Häusern bröckelt der Fassadenstuck. Argentiniens wirtschaftliche Blüte ist sichtbar verwelkt und Vergangenheit geworden. Der letzte große wirtschaftliche Zusammenbruch von 2001 liegt noch nicht mal 20 Jahre zurück und schon wieder ist die Wirtschaft im Keller.  Der argentinische Peso ist letztes Jahr tief gestürzt. Das Land ist hoch verschuldet. Menschen verlieren ihre Arbeitsplätze. Die Löhne sind entwertet und die Preise für Lebensmittel sind angestiegen. Vieles ist sogar teurer als in Deutschland. Menschen stehen an Geldautomaten Schlange. Auf den Fußgängerwegen und Plätzen sind auffällig viele Matratzen und Bettenlager aufgebaut. Die Anzahl der Obdachlosen ist sichtbar gestiegen in den letzten Jahren. Wirtschaftliche Krise, politische Frustration, ein Nebeneinander starker Gegensätze - auch das wird uns in Buenos Aires scnell gezeigt.  

Argentiniens junge Geschichte ist ein Kreislauf aus Demokratie, Militärdiktatur und wirtschaftlichen Zusammenbrüchen. Sicher gerade deswegen bekommen wir den Eindruck von einer Stadt, in der politische Haltung in Form von Demonstrationen und Kunst auf die Straße gebracht wird. Streetart ist eines der wesentlichen Bestandteile des Straßenbildes. Es gibt wenig weiße Wände in Buenos Aires und die Größe und Farbenpracht einiger Bilder sind schier beeindruckend. Aus dem Stadtspaziergang hier wird ein Gang durch eine einzigartige, bunte, riesige Freiluftgalerie. Kein Straßenzug ist ohne Kunstwerk.

„Ni olvido ni perdón“ - „Weder vergessen noch vergeben“, heißt es neben den Gesichtern der aufgemalten Plakate. Der Schriftzug und die Portaits neben der Frau mit dem weißen Kopftuch sind nur ein Ausschnitt der riesigen bemalten Wand. Links daneben eine muskulöse Frau in kämpferischer Haltung. Auch sie mit einem weißen Tuch auf dem Kopf. Nicht nur die Wand würdigt und erinnert an die 'madres' und 'abuelas' des Plaza de Mayo. Auch auf dem Platz selbst, an der Stelle, an der die Proteste der Mütter und Großmütter begannen, erinnern die auf den Boden gemalten weißen Kopftücher an den mutigen und verzweifelten Widerstand der Frauen. Sie verband die Suche nach ihren vermissten Kindern, die während der  Militärdiktatur zwischen 1976 und 1983 verschwanden. Etwa 30.000 Menschen wurden in der Zeit der Militärdiktatur verschleppt und ermordet. Hier auf der Plaza de Mayo wagten die Frauen den mutigen Protest. Sie trieben zudem die Aufarbeitung der Verbrechen voran, noch lange nach der Militärdiktatur. Einigen nahm man nicht nur das Kind, sondern auch das noch nicht geborene Enkelkind. Frauen wurden nach der Geburt ihrer Kinder im Gefängnis ermordet und die Babys von regimetreuen Paaren und Militärs adoptiert. Geschätzte 500 Kinder wuchsen ohne ihr Wissen bei fremden Menschen auf, einige direkt bei den Mördern ihrer leiblichen Eltern. Mithilfe der abuelas konnten etwa 130 der mittlerweile erwachsenen Enkel ausfindig gemacht werden.

Beim Friedhof von Recoleta geht gleich die Sonne unter. Ein Wirrwarr an Kreuzen und Engeln zeichnet sich vom Himmel ab. Das letzte Licht des Tages durchdringt buntes Glas. Die pompösen Mausoleen des 'Cementerio' verbinden sich zu einer Totenstadt. Eine Stadt in der Stadt. Gleich wird das prachtvolle Tor geschlossen. Die Stadt außerhalb des Friedhofs jedoch schläft spät oder gar nicht. Auch die Buchhandlung im ehemaligen Theater schließt erst um Mitternacht. Zu Klavierkonzert können wir hier ein wenig in den Büchern stöbern. Obwohl es nachts frisch ist, sind die Kneipen voll. Es wird geraucht, getrunken, weggegangen. 

Argentiniens Hauptstadt ist aber auch eine Stadt der Parallelwelten. Wir streifen nur kurz diese andere Realität, fahren diese eine Straße unter der Autobahn entlang, die auf einmal in einer Sackgasse endet. Plötzlich versperren Sofas den Weg. Mitten auf der Straße eine zusammengezimmerte Bude. Rechterhand sieht die Stadt jetzt anders aus. Statt den schnieken Innenstadthäusern nun aufeinandergetürmte Hütten. Die vielen Warnungen im Kopf radeln wir weiter. Nach 500 Metern deutet nichts mehr auf die unbekannte Welt schräg hinter uns hin. 

Wir wurden gewarnt vor bestimmten Ecken und Vierteln: vom Auswärtigten Amt, von Bewohnern der Stadt, vom Polizist, der uns sagt: „Wenn ihr hier weitergeht, dann werdet ihr ausgeraubt.“ Im Reiseführer sehen wir auf der Karte quer über einige Gebiete den Schriftzug: „für Touristen unsicheres Gebiet“. Nicht nur Touristen wagen sich in die Gegenden nicht hinein. Auch sonst geht kaum jemand, der dort nicht wohnt, in die Villas Miserias, die sogenannten Elendsviertel.  Die Villas stehen für Armut, Drogen und Kriminalität. Die Elendsviertel gibt es nicht nur in Buenos Aires, sondern in jeder argentinischen Großstadt. Die Villas sind kein neues Phänomen. Sie bildeten sich im Zuge der Urbanisierung, als Landarbeiter mit der Industrialisierung in den Städten auf Arbeitssuche gingen. Allein in Buenos Aires gibt es 14 Villas. In  der wohl bekanntesten, da mitten in der Stadt und in bester Lage, leben 30.000 Menschen. Und die Villas wachsen weiter. Den dicht verschachtelten Siedlungen fehlt es an Infrastruktur: mal ist es der Trinkwasserzugang, mal die Kanalisation oder die Elektrizität. 

Und auch sonst wird sich abgeschottet. Die Fenster der Stadt sind meist vergittert. Der Nachbar von unserem Warmshowershost Augus will uns erst gar nicht ins Haus reinlassen. Und auch bei Claudio, bei dem wir uns für eine Woche etwas außerhalb  der Stadt einmieten, werden sämtliche Türen immer doppelt und dreifach abgeschlossen. Bei Claudio versinken wir im Spanischlernen und Streckenplanen. Buenos Aires verabschiedet sich von uns noch einmal mit Musik, wie könnte es anders sein: mit einem Tango Argentino.

Am Bahnhof Retiro steigen wir spät abends in den Zug nach Cordoba. Wir rattern kaum schneller als mit dem Rad. Jetzt werden die Ansagen gemacht, jedoch nicht durch den Lautsprecher. Persönlich kündigt der Zugbegleiter die heutige Premiere an: eine neue Station wurde in den Fahrplan aufgenommen. Auf die Ansage folgt Applaus. Noch in der Nacht sammeln wir den Großteil der Mitreisenden ein. Draußen steht die Feuchtigkeit in der Luft und verstreut das warme Licht der Straßenlaternen, das es bei uns auch einmal gab. Auch die Schrankenwärterhäuschen sind hier noch nicht verlassene Relikte aus Kindheitstagen- drinnen brennt das Licht. Der heftige Regenguss der letzten Tage hat den Boden draußen aufgeweicht und kleine Seen erschaffen. Direkt neben den Schienen ziehen sich die Dächer der zusammengezimmerten Häuser der Slums entlang. Ein einziger Flickenteppich aus Wellblechstücken und Folien. Die kleinen Innenhöfe der Armenhäuser sind Schlammbäder geworden. Die Lampe brennt auch hier im warmen Licht. Wir stellen uns die Menschen vor, die jetzt, keine zehn Meter entfernt von uns, in ihren Betten liegen. 

In unserem Waggon kann heute Nacht nur einer schlafen. Der Schnarcher bringt die alten Damen hinter uns mit seinen animalischen Grunzgeräuschen zum kichern. Am nächsten morgen berichtet er lautstark am Telefon, dass er mit seinem Schnarchen das ganze Abteil wachgehalten hat und alle müssen darüber lachen.

 

Wir holpern über das Gleisbett der Pampa: eine riesige Ebene westlich von Buenos Aires- Nahrungslieferant für Millionen von Menschen. Der Winter hat aus dem großen, argentinischen Anbau- und Viehzuchtgebiet eine triste, kahle und braune Weite gemacht. Riesige, braune Felder. Das ist also Argentinien. Fast acht mal so groß wie Deutschland hat das Land allerdings nur etwa die Hälfte an Einwohnern. Außerhalb der Städte ist dieses riesige Land kaum besiedelt. Eine Eigenschaft, die sich wohl vom Norden Argentiniens bis an die Südspitze durchzieht. Nichts zu sehen ist jedoch hier von den großen Gletscher- und Schneelandschaften. Die Pampa kommt ohne Wälder und Dschungel aus. Noch weit entfernt sind die bis zu 6000m hohen Spitzen der Anden. Draußen gähnende Langeweile, drinnen aber kommt das Abteil in Stimmung. 

Die junge Frau von gegenüber lächelt uns an, ihre obere Zahnreihe besteht aus bräunlichen  Stummeln. Sie reicht uns den Mate-Becher. Wir alle trinken aus dem gleichen Strohhalm. Die Oma ruft ihre Freundin aus dem anderen Abteil an: Sie solle hierherkommen, hier del was los: „dos alemanes“ und „cantante“! Sofia hat ihre Gitarre ausgepackt. Die rauchig schöne Stimme der jungen Frau versammelt immer mehr Menschen in unserem Abteil. Melancholische Lieder drinnen, draußen die Pampa. Zum Abschied gibt es viele Küsschen, ein Küsschen pro Wange.

Cordoba ist vollgestopft. Die Menschen stehen auf beiden Straßenseiten Spalier. Auf den schmalen durchlöcherten Gehwegen sind lange Einer-Reihen von Wartenden, die jetzt den Bus nach Hause nehmen wollen. Cordoba ist berühmt für seine vielen prunkvollen Kirchen, Kathedralen und Klöster, für schöne Kolonialarchitektur. Auch dieser Stadt sieht man ihre lebendige Kunst und Kulturszene sofort an. 

Wir landen in der Casa de Tortuga, einem alten Familienhaus inmitten von Cordoba, mit großem Hof. Hier wohnen die vier Brüder Luis, Gonzalo, Juan und Santiago und ihr Freund Nacho solange, bis die Erbstreitigkeiten der Großfamilie um das Haus geklärt sind. Wie in „der Pate“- so beschreibt Luis die große Familie und meint damit sowohl das wuselige Großfamilientreiben als auch die italienische Herkunft.  Jetzt sind die Eltern der Jungs da. Der Papa klimpert einen Milonga auf der Gitarre. Und schließlich soll auch das argentinische Asado nicht fehlen. Nacho schüttet die Grillkohle aufs Wellblech. Große Stücken Rindfleisch landen auf dem Rost, nur mit Salz und etwas Zitrone gewürzt.

Endlich sitzen wir wieder auf dem Sattel. Wir radeln in den Nordwesten in Richtung Bolivien. Die kommenden Wochen fahren wir durch die Provinzen Cordoba, La Rioja, Catamarca, Salta und Jujui. Die Straße teilen wir uns zunächst mit vielen Autos. Der Straßenrand ist vermüllt und staubig.Die Dörfer sind dicht aneinandergereiht. Jetzt sind wir auf Schlafplatzsuche. Den Mann mit der Gitarre haben wir doch heute schon mal irgendwo gesehen. Jetzt folgen wir ihm die Straße hoch auf den Hügel. Ein Trampelpfad zweigt ab, zwischen Büschen hindurch. Immer wieder zweigen kleine zertretende Wege in andere Richtungen. Bis wir vor seiner kleinen Hütte stehen: neben dem Haus eine tiefe kuhle im Sand. Das, was hier einmal Boden war, hat Gaston zu seinem Lehmhaus verarbeitet. Die Baumaterialien hat er alle zusammengesammelt: eine Windschutzscheibe als Fenster. Eingearbeitete Glasflaschen lassen Licht durch die Wand. Tatsächlich sind hier überall irgendwo kleine Häuschen im Busch, sogar ein kleiner Laden am Ende des anderen Trampelpfad. Natürlich ist das Land einfach besetzt und eigenhändig bebaut. Ein wenig Geld verdient Gaston mit Straßenmusik. Vier mal pro Woche singt er im Zug. „Ach, wir haben wieder Radfahrer hier“, heißt es vom Nachbarn, der gerade nach Hause kommt. Auch der ehemalige Musiklehrer ist hier auf dem Hügel wohnhaft. Kochen auf dem Feuer. Im Schein des Lagerfeuers sehen wir die elektronische Fußfessel an Gastons Bein. Der Abend endet musikalisch. Die beiden spielen in die Kälte der Nacht hinein, die langsam unter unsere Jacken kriecht. 

Weiterradeln. Dörfer und Häuser verschwinden. Die Straße löst sich in der Nachmittagssonne auf. Die Winter in den Gebirgszügen der Sierras Pampeanas sind trocken. Am Straßenrand braunes Gras. Plastiktüten verfangen sich im Dornengestrüpp. Die Straßenschilder kündigen jetzt vergeblich einen Fluss an. Zu  sehen sind lediglich große, sandige Schneisen, die sich durch die Landschaft ziehen. Durch die trockene Weite streift ein Fuchs. Das graue Gestein der parallel laufenden Bergkette ist überzogen von grauem Dornengestrüpp. Das Grün der kleinen Blätter schimmert nur schwach durch den Staub. Lange, senkrechte Kakteen stehen zu tausenden in der Landschaft. Und die Pflanzen sind wehrhaft. Wir ziehen lange, kräftige Dornen und Stacheln aus unseren platten Reifen. Wer hier aufwächst, läuft nicht barfuß. Tagelang führt unsere Straße nur noch in eine Richtung: geradeaus. Entfernungen sind schwer einzuschätzen. Die Kilometerangaben der Routa 40 sind irrsinnig hoch. Die Nationalstraße durchkreuzt auf 5300 km Argentinien von Süden nach Norden. Weit über uns kreisen die majestätischen Andenkondore, die bis zu 3 Meter Flügelspannweite erreichen können. Ihre von unten schwarzen Flügel enden in einem fingerartigem Fächer.  

Die Landschaft ist schroff und lebensfern. Viele Menschen leben hier nicht. Orte sind auf großen Autoreifen angekündigt. Die Orte spiegeln die Ödnis der Landschaft. Grundstücke sind Sandflächen. In den kleinen Dorfläden reduziert sich die Essensauswahl. Es gibt einen Angestellten für die Gemüsewaage, einen für den Brotverkauf, bei dem man zwischen Weißbrot und Weißbrot wählen darf. Ein extra Fleischabwieger. Eine der zwei Kassiererinnen ist mit dem Einstellen des Fernsehprogramms beschäftigt. Auch wenn die Orte selbst sich mit großen, weißen Hollywoodbuchstaben inmitten leerer Kreisverkehre ausschildern: de facto ist hier nichts los. Erst recht nicht während der Siesta zwischen 13 und 18 Uhr, die wir in der ohnehin schon dünn besiedelten Gegend nun zusätzlich bedenken müssen bei der Essensbeschaffung. Gähnende Leere in den Siesta-Stunden. Auf der Dorfstraße bildet sich ein Staubwirbel. 

Meist zelten wir alleine auf den Camping Municipals, außerhalb der Saison teilweise sogar kostenlos. Grillabende auf überfüllten Campingplätzen können wir uns jetzt, im Winter, nur vorstellen.  

Ein LKW stoppt. In Ramons ausgebeulter Wange steckt ein dicker Klumpen zerkauter Kokablätter. Er bietet uns Wasser und Orangen an. Die wenigen Autos halten wieder Abstand. Fast jeder grüßt uns mit Lichthupe, manchmal wird auch richtig gehupt. 

Die wenigen Farbflecken in der grau verschleierten Landschaft kommen von den vielen Schreinen am Straßenrand. Mehrfach täglich wedeln die roten Flaggen am Schrein von Gauchito Gil, dem argentischen Robin Hood. Optisch gleicht er Jesus mit Hippie-Stirnband und rotem Kommunistenhalstuch. Aber nicht nur an Gauchito Gil fahren wir vorbei. Ein Berg von Wasserflaschen, allesamt gefüllt. In der Mitte die Figur der in der Wüste verdursteten Difunta Corea, an ihrer entblösten Brust das überlebende, Muttermilch trinkende Kind. Damit sich diese Tragödie sich hier in der trockenen Landschaft nicht wiederholt, halten die Menschen an den Schreinen an und legen Wasserflaschen dazu.

Über uns fliegen hunderte Papageien wie große Fischschwärme durch die Luft. Das grüne Gefieder glänzt in der Sonne. An den blattleeren, knorrigen Weinpflanzen vor Cafayate hängen vergessene, verschrumpelte Trauben. Die Weingegend zieht Wochenendtouristen an. Der zentrale Platz ist voller Menschen. Auf dem Hinterhofcampingplatz stehen noch andere Zelte, obwohl die Temperaturen nachts  Minusgrade erreichen. Hier kommen auch die 'artesanos' unter. An der Küchenwand lehnen abends die Verkaufstafeln, an denen selbst hergestellter Schmuck baumelt. Reisen, trampen, Ringe basteln, Bänder knüpfen, arbeiten gegen Unterkunft: Wir treffen auf junge Menschen aus Südamerika, die sich bewusst für diese Art von Leben entscheiden. Von Tag zu Tag. Von der Hand in den Mund. Auffällig viele treffen wir in Argentinien, eine große alternative Szene. Das Geld wird in heute in Malbec investiert. In der Küche summt die Tätowiermaschine.

Hinter Cafayate verlassen wir die Ruta 40 in Richtung Salta. Auf etwa hundert Kilometern Abfahrt radeln wir durch eine eindrucksvolle, bunte Felslandschaft. Einige Berge sind waagerecht geschichtet, andere bestehen aus senkrecht aneinandergelehnten Riesenplatten. Woanders prägen kantige Steinbrocken die Oberfläche oder sanft abgerundete, gewellte Felsen. Manche Berge erinnern an riesige, ausgetrocknete Kleckerburgen, kurz vorm zerbröseln.  Die rote Oberfläche der senkrechten Wand fühlt sich wie grobkörniges Schleifpapier an. Auf der trockenen Erde abseits des Flusses wachsen Kakteenpflanzen wie große haarige Raupen. Über uns schweben der Andenkondore. Je tiefer wir hinabradeln, desto grüner wird die Landschaft, desto größer werden die Blätter der Bäume. 

Für uns jedoch geht es gleich wieder hoch auf die Puna, die Hochwüste der Anden, auf Höhen zwischen 3500 und 4500 Metern und über den Pass nach San Antonio de los Cobres. Die Zellentür der örtlichen Polizeistation schlägt hinter uns zu. Wir dürfen drinnen schlafen und entgehen so der Kälte der Andenwüstennacht, die sofort nach Sonnenuntergang diesen trostlosen Ort unter sich begräbt.

Hier oben schrumpft die Routa 40 auf eine Spur zusammen. Der Straßenbelag verschwindet. Durch die unwirkliche Andenlandschaft zieht sich eine einzige Wellblechpiste. Hier fährt nur noch selten ein Auto lang. Die wenigen Häuser sind im gleichen Rot der Erde und somit getarnt in der Landschaft. Auf über 4000 Metern leben die Menschen einsam, aber nicht ganz vergessen von der Welt. Die kleinen, einfachen Lehmhäuser verfügen meist sogar über eine Solarzelle. Wellblechdächer sind mit Steinen und Autoreifen beschwert, damit sie dem starken Gebirgswind standhalten können. Neben dem Haus: ein Tiergatter und der getrocknete Viehmist zum Heizen. Eine Landschaft, die kein anderes Heizmaterial hergibt. Im Nichts schnellen jetzt wilde Vicuñas elegant davon, als wären sie die scheuen Rehe der Anden. Dickfellige Llamas sind unterwegs, mit kleinen Puscheln an den Ohren und  gestrickten Halsbändern markiert. Wir sind drin in den Anden und ab jetzt eine ganze Weile in den Höhen unterwegs. Die Straße führt uns hoch auf den 4200m hohen Paso de Jama, zur chilenischen Grenze.