Bolivien - Unterwegs auf dem Altiplano


Hörend mitradeln:


Das Altiplano ist eine gigantische Hochebene zwischen den großen Andenketten. Die trockene und karge Landschaft des Hochplateaus breitet sich gleich auf mehrere Länder aus: Argentinien, Chile, Bolivien und Peru. Gerade mal 120 Kilometer radeln wir auf chilenischem Boden, auf dem nordöstlichen Zipfel Hochgebirgswüste. Hier, auf der 'Ruta del desierto' begegnet uns kaum etwas, bis auf wenige Autos. Einige Trucks und Touristenkarren feuern uns hupend an, als wir keuchend auf 4800 m klettern. An wenigen Stellen liegt noch Restschnee neben der Straße, der trotz der starken Höhensonne nur langsam schmelzen will. Die Kälte hält an ihm fest. Und sie kriecht nachts in unser Zelt. Unser kleines Haus aus Stoff kann die Minus zwanzig Grad kaum draußen halten. Selbst die Wasserflaschen im Zelt gefrieren. Ab jetzt trinken wir Eiswasser. Vormittags dauert es seine Zeit, bis die Sonne endlich die vielen Stoffschichten durchwärmt. Nur selten wird die Kargheit  der Gegend durch einen Hochgebirgssee lebendig gemacht. Vegetation sehen wir ansonsten wenig, bis auf das in der Sonne leuchtende, goldgelbe und piksige Ichugras. Restliche Pflanzen sind hier oben oft derart klein, dass sie für uns Vorbeifahrende unsichtbar werden. Vicuñas, die in der leeren Hochwüste „grasen“- ein merkwürdiger, aber nicht seltener Anblick. Die schönen, wilden Andentiere streifen in Herden über das Altiplano. Die Fellfarbe ist wie der Landschaft direkt entnommen. Die Vicuñas sind eingekuschelt in besonders feine, dichte, hellbraune und beige Wolle. Sowohl die Kälte als auch die dünne Höhenluft machen den eleganten und scheuen Tieren nichts aus. Menschen allerdings siedeln sich nicht freiwillig in dieser Landschaft an. So ist das erste Haus, das wir in Chile sehen, auch gleichzeitig das letzte: die kleine Grenzstation zu Bolivien. 

"Migración Bolivia"- das kleine und schäbige Grenzhäuschen: wie ein Aushängeschild verbreitet es den Ruf vom verarmten Bolivien. Auf die Fenster haben Reisende ihre Sticker geklebt. Wir warten auf die wohl übliche Aufforderung zur Schmiergeldzahlung. Stattdessen bekommen wir entspannten Reggae aus dem Radio des Grenzbeamten auf die Ohren, während wir unsere Dokumente ausfüllen. Hinter der Grenze war es das dann auch mit dem  Asphalt. Ab jetzt heißt es: unbefestigte Sandpisten. Wir wechseln zwischen den vielen Jeepspuren hin und her. Immer auf der Suche nach dem geringsten Übel. Vorbei am knapp 6000m hohen Vulkan Licancabur, hinein in den Nationalpark und rauf auf die Lagunenroute. Die ist bekannt für ihren furchtbar zu befahrenen Untergrund, aber besonders für ihre bunten Seen, für thermische Aktivitäten und für die hier lebenden Flamingos. Die wenigen Dörfer existieren nur für den Tourismus. Sie sind kleine Ansammlungen an Gästehäusern, in die abends Jeepladungen Touristen gestopft werden. Immerhin können wir so in der zweiten Nacht aufs Zelt verzichten. An den Tischen des 'refugio' sind ungewohnt viele Menschen versammelt. Unmusikalische Dorfkinder spazieren selbstbewusst in den Essenssaal und spekulieren auf spendable Touristen. Bevor es Abendbrot gibt, müssen wir nun den schiefen Klängen zuhören. Der Kleinste des Jungentrios tut nur so, als würde er auf der Panflöte spielen können. Wir fühlen uns ein wenig fremd zwischen den anderen, mitklatschenden Touristen. Und noch merkwürdiger erscheint uns die Klassenfahrtankündigung der Reiseleitung für den nächsten Tag: „5 Uhr Frühstück und zieht euch eure Badesachen für die Thermalquelle schon mal unter“. Durchgetaktetes, überladenes Programm. Dennoch nette Gespräche und ein Genuss für unsere Radfahrerbäuche, die sich über sämtliche Pasta- und Suppenreste der Tourgruppen hermachen. 

Morgens breiten sich über die Stille des Andenplateaus die Motorengeräusche der Jeeps. Die Gruppen machen sich auf den Weg. Ruhe kehrt ein. Nina und Wilfredo genießen diesen Moment der Stille morgens. Aber nach der Tour ist vor der Tour. Nina stöhnt, gedanklich so langsam bei 20 mal Bettwäsche, die sie heute wieder per Hand waschen muss. Strom gibt es hier wenig und schon gar nicht konstant. Das, was die kleine Solarzelle tagsüber sammelt, muss für abends reichen. Dennoch sind Nina und Wilfredo glücklich darüber, dass sie hier arbeiten und leben können, gemeinsam mit ihrem einjährigen Sohn Giovanni. Es ist so schön ruhig hier und sie verdienen gutes Geld. 2000 Bolivianos bekommt jeder im Monat, das sind umgerechnet 260 Euro. Weitaus mehr, als Ninas Familie mit dem Anbau von Quinoa verdient, den sie sich nicht mal selbst leisten können. Für die Leute hier ist der Tourismus eine gute Einnahmequelle und eine bessere Alternative zu den schlecht bezahlten, anstrengenderen Jobs wie die auf den Feldern oder in den Minen. Der Tourismus bringt Geld in das arme Land. Aber er bringt noch etwas mit: Fremde Menschen werden als wandelnder Geldbeutel wahrgenommen. Mehrfach erleben wir hier, wo die Orte einzig und allein von den 'monetarios' der Touristen leben, dass Menschen unfreundlich sind und keinerlei Interesse am Austausch haben. So ein entspanntes Gespräch wie jetzt mit Nina und Wilfredo haben wir hier selten. Wir fahren weiter. Die beiden Wechseln in ihre Muttersprache, Quechua.

Das Radfahren ist hier auf der Lagunenroute kein normales Radeln. Es ist ein permanent konzentriertes Balancieren, immer auf der Suche nach dem besten Untergrund. Die ersten Tage waren aber nicht so schlimm, wie befürchtet. Meistens konnten wir irgendwie fahren. Langsam, Tritt für Tritt, Buckel für Buckel über die Wellblechpiste. Wenn der Sand unter einem weich wird und das Hinterrad versinkt, fühlt es sich jedoch an, als würde jemand von hinten am Fahrrad ziehen.

Wir holpern bergab und vor uns breitet sich nun eine große, rote Fläche aus. Aus der roten Wasserfläche stechen weiße Inseln wie Eisschollen hervor, nur dass diese Inseln große Mineralblöcke sind. Tief kann das Wasser des Sees, der hier ‚laguna‘ genannt wird,  nicht sein. Denn nicht nur am Ufer der 'laguna colorada' auch mitten drin, stehen die vielen rosa Flamingos in dem roten Wasser, dessen Farbe von den darin schwimmenden Algen kommt. Die knalligen Vögel tauchen ihre Schnäbel unter Wasser und schnabulieren. Sie staksen umher, die Körper wippen hoch und runter. Obwohl sie gute Flieger sind, sehen sie ganz schön unbeholfen aus, wollen sie erst einmal in die Luft. Sie rennen platschend übers Wasser, bis sie endlich schnell genug sind, um abzuheben. Dann aber machen sie sich lang, strecken Hals und Beine waagerecht aus. Drei Flamingoarten versammeln sich hier oben. Manche sind ein wenig heller, andere haben richtig knall pinke Schwanzfedern. Einige Flamingos jedoch wirken wie aus einem Schwarz-Weiß-Film entflohen. Farblos inmitten der rosa Artgenossen. Es sind die Jungvögel, die bereits die gleiche Form haben wie die Erwachsenen, allerdings noch einige Algen mit dem roten Farbstoff essen müssen, ehe sich auch ihre Federfarbe verändert.

Heute peitscht uns der Wind grobkörnigen Sand ins Gesicht. Obwohl die Ohren unter einer dicken Schicht aus Stirnband, Mütze und mehreren Kapuzen stecken, hören wir nichts anderes, als den permanenten, lauten Wind. Die Rufe des jeweils Anderen wirken wie weit entfernt, auch wenn wir direkt nebeneinander sind. Hat man mal eine gute Spur gefunden, dann bläst einen der Sturm direkt wieder raus und  der tiefe Sand holt uns vom Rad.  Nicht lange und wir müssen die Räder schieben. Der Wind wird immer stärker, bis wir schließlich gar nicht mehr gegen ihn ankommen.  Nach zwei anstrengenden Stunden und fünf Kilometern drehen wir um und lassen uns vom Wind dahin zurückschieben, wo wir morgens gestartet sind.

Wir stecken fest, glücklicherweise drinnen, hinter der großen Fensterfront unserer Hospedaje, mittlerweile zu dritt. Auch Xavi aus Spanien hat sein Fahrrad abstellen müssen und starrt nun mit uns aus dem Fenster. Draußen staksen Lamas zu den verrosteten Mülltonnen, um darin nach Essensresten zu suchen. Es ist eisig und drinnen nicht viel wärmer: kein Ofen, keine Heizung. 

Nach zwei Tagen bläst der Wind noch immer stark, aber wir radeln weiter in eine andere Richtung und im Schutze des Berges. Wir durchbrechen Eis, fahren vorbei an vielen Lamas. Vorbei auch an etlichen Viscachas, den Hasenmäusen, eine optische Mischung aus Kaninchen und Eichhörnchen. Sie flitzen über Steine hinweg, verschwinden in Windeseile in Felspalten. Am anderen Ausgang des Nationalparks steigen wir in einen leeren Tourjeep und werden mitgenommen nach Uyuni. Im Auto ist vom Wind nichts mehr zu spüren.

Ein radfahrender Pinguin dreht sich auf dem Dach. Kleine gebastelte Räder aus Draht baumeln am Küchenfenster. Man muss nicht einmal selbst drinnen liegen, allein die Anwesenheit von Hängematten sorgt schon für Gemütlichkeit und Entspannung. Schlafsäcke hängen zum Lüften aus. Es wird geschnackt. Zu zweit wird Handwäsche ausgewrungen. Fahrräder werden gereinigt und repariert. Menschen lesen, trinken Kaffee, Mate oder Bier. Reiserouten werden ausgetauscht, Gitarre wird gespielt. Augen werden geschlossen. Wir sind das erste Mal in einer 'casa de ciclistas' untergekommen. Macarena und ihre quirlige Mutter Miriam bezeichnen ihr „Casa Ciclista Pingüi “ als ein „gemütliches Haus, das all jenen Gastfreundschaft bietet, die mit dem Fahrrad durch verschiedene Länder reisen. Ein Refugium, das nicht aus Profitgründen besteht, sondern Teil eines Netzwerks ist, das diese Abenteurer miteinander verbindet.“ Jeder spendet, was er will und kann, um die Unkosten zu decken. Miriam ist sichtlich stolz auf den Ort, den sie hier erschaffen haben vor einem halben Jahr. Ein Ort für Radreisende, so wie es ihn in ähnlicher Form in vielen Ländern Südamerikas gibt. Die Casas sind Teil einer hier etablierten Radreisekultur. Und die Frauen haben auch einen kleinen Kampf durch für diese Oase: Kontrollen seitens der Behörden, die sich nicht vorstellen können, dass es einfach um Gastfreundschaft geht und nicht um finanzielle Ambitionen. Jeder bleibt hier länger als gedacht, erzählt Miriam. Wir jetzt auch.

Uyuni ist eine merkwürdige Stadt. Am Stadtrand ein Eisenbahnfriedhof, längst abgestellte und verrostete Züge. Straßenzüge sehen wild und verroht aus. Müll liegt fast immer um die Mülltonnen herum, denn die Hunde erobern jede Tonne. Viele der Straßenhunde tragen Pullis gegen die Kälte. Auf dem Wochenmarkt ist es ramschig. 

Wir brechen auf zum 'Salar de Uyuni', eine der surrealsten Landschaften auf unserer Reise. Von einem Moment auf den anderen um uns herum gleißendes Weiß.  Bis zum Horizont eine mehr als 10.000 km² große, weiße Ebene. Grelles Licht. Wir sind vermummt, denn die Höhensonne wird  vom Untergrund reflektiert. Sonnenbrillen- und Handschuhwetter. Unter unseren Reifen knirscht es. Wir werden das Gefühl nicht los, dass wir auf verharrschtem Schnee unterwegs sind.  Aber das ist keine sibirische Winterlandschaft. Der Untergrund ist überhaupt nicht rutschig. Der vermeintliche Schnee ist Salz. Und das liegt in der Luft und auf den Lippen. Dass diese gigantische, weiße Weite aus geschätzten zehn Milliarden Tonnen Salz bestehen soll, geht nur theoretisch in unsere Köpfe. Drei Tage und 120 km lang stecken wir ganz von allein dieses Weiß immer und immer wieder in die Kategorie Schnee. Tatsächlich jedoch ist dieser große Salzsee weitaus lebensfeindlicher als jede Winterlandschaft, als jede Wüste. Auf dem Salar lebt nichts. Kein Pflänzchen. Kein Tier. Lediglich zum Nudeln kochen eignet sich das Salz. Die Sonne knallt und reflektiert erbarmungslos. Die Orientierung ist erschwert. Auch unser Zelt können wir hier nicht wie gewohnt aufstellen. Die Heringe bekommen wir nicht in die steinharte, undurchdringliche Salzkruste. Das Zelt binden wir an unseren Fahrrädern fest. Aber jeder Moment ist beeindruckend hier. Während auf der einen Seite der Sonnenuntergang den Himmel orange tüncht, verfärbt sich gegenüber der Horizont dunkelblau und rosa. Ein Farbenspiel, hervorgerufen durch die Staubluft des Andenhochplateaus. Die Nächte sind kalt. Der Himmel verwandelt sich in eine Sternenkuppel und die Sterne stoßen bis auf den Boden. Wir zelten in einem magischen Freiluft-Planetarium. Keine Geräusche sind zu vernehmen. Auch Stille kann einem laut vorkommen.

Weit mehr als Salz liegt unter uns. Unsichtbar versteckt in der weißen Kruste liegen begehrte Rohstoffe wie Borax und Lithium. Nicht nur im Salar de Uyuni, auch in anderen Salzseen in Nordchile und Nordargentinien befinden sich die Elemente, die hier überall abgebaut werden. 70 Prozent des weltweiten Vorkommens an Lithium werden hier im Dreiländereck vermutet. Große Industrienationen haben immer mehr Bedarf an dem Leichtmetall, brauchen es für Batterien, insbesondere für Elektroautos. Aber obwohl es sogar eine saubere Variante gibt, wählen die, meist ausländischen Unternehmen kostengünstigere Abbaumethoden und nehmen so Verbrechen an der Umwelt in Kauf. Folgen sind Kontamination von Wasser, Verunreinigung der Luft und Versalzen der Süßwasservorräte. Der indigenen Bevölkerung wird die Lebensgrundlage zerstört. 

 

Trotz all der Zauberkraft des Salars breitet sich ein wohliges Gefühl in uns aus, als wir endlich wieder Erde unter uns sehen. Rein in den kleinen Ort Tahua am nördlichen Rande des Salars. Auf dem Dorfplatz findet gerade eine Versammlung statt. Jeder Kopf ist vor der Sonne geschützt. Hutkrampen sind breit. Die älteren Häuser sind aus Lehm, die neueren aus rotem Stein. Keines der Gebäude ist verputzt. Gestrichen sind die Häuser wenn dann nur für Mobilfunkanbieter-Werbung. Oder für Wahlwerbung- rund um den Dorfplatz steht auf beinahe jedem zweiten Haus in riesiger Schrift „Si Evo“ und „Mas Evo“. Der Präsident Evo Morales will sich die Stimmen für die nächste Amtsperiode sichern. Der kleine Dorfladen misst gerade mal geschätzte 8m². Dennoch passen in den engen Raum sowohl Laden als auch, durch einen Vorhang abgetrennt, Wohnraum, bestehend aus einem Bett und einer Kochecke. Hier wird gelebt und gearbeitet. Ob die Morgentoilette im 'baño público' verrichtet wird? Zumindest gibt es einige Haushalte in Bolivien, die nicht über ein eigenes Bad oder überhaupt über fließend Wasser verfügen. In diesen Laden können wir immerhin hineingehen. Nicht unüblich ist hier sonst der Einkauf durchs Fenster, an dem man sich jedes einzelne Produkt erfragen muss. Und Glück haben wir auch, dass überhaupt jemand da ist. Denn ein offener Laden bedeutet in Bolivien nicht gleich die Anwesenheit der Verkäuferin oder des weniger vertretenen Verkäufers.  Hier wird sorglos der ganze Besitz inklusive Kassenkörbchen unbeaufsichtigt zurückgelassen, manchmal für über eine halbe Stunde. Obwohl zehn Meter entfernt Lamafleisch und Reis zubereitet werden, sitzt der Straßenhund geduldig vor unserer Bank und hofft darauf, dass wir unser Frühstück mit ihm teilen. Drei Schweine gesellen sich grunzend und nasewackelnd dazu. Auf der gegenüberliegenden Seite strickt eine Frau ausdauernd. Jetzt, abseits der touristischen Hauptroute, begegnen uns die Leute prompt freundlicher.

Abseits der Ortschaften ist jedoch die Kargheit zurück. Kleine Bauernhöfe wirken wie längst verlassen. Ab und zu kreuzen Lamas die Straße. „Parken verboten“ heißt es an der Landstraße, an der es einerseits unendlich Parkraum gibt, aber doch kein Grund zum Anhalten. Außer für Nina und Gonzales, denn die sind in Feierlaune und wollen uns dran teilhaben lassen, reichen uns zwei gekühlte Flaschen "Huari". Der ganze Kofferraum ist voller Bier, wie sie uns stolz zeigen. Acht Kästen haben sie eingeladen. Aus den Yungas haben sie sich aufgemacht aufs Altiplano, um in Ninas Heimatdorf zum Nationalfeiertag ordentlich einen draufzumachen.

Wir sind im Bus. wollen nicht auf der Autopista weiterradeln, sondern lieber noch ein wenig Feiertagslaune in der nächsten, großen Stadt abgreifen. Der Bus nach Oruro ist voll, stinkt nach Schweiß und Koka. Obwohl die trockene Landschaft in ungewohnt schnellem Tempo an uns vorbeizieht, zeigt der Tacho des Klapperbusses 0 km/h an. Zwangspause. Der zwölfjährige Busbegleiter sprintet los, um Werkzeug zu besorgen. Es wird geschraubt und gehämmert. Etwa zehn mal halten wir an, bis der Bus schließlich vollends den Geist aufgibt. Wir werden Teil einer ausgesetzten Fahrgasthorde. Einige haben schon einen anderen Bus bekommen, andere sitzen jetzt auf ihren Taschen am Straßenrand. Da radeln wir doch lieber die letzten dreißig Kilometer nach Oruro.

Wo Bolivien dichter besiedelt ist, ist es oft ganz schön vermüllt. Plastiktüten tanzen im Wind. Müll, Schottersteine, Sandhügel, Baureste, dreckige Fabriken, asphaltlose Seitenstraßen und Autofriedhöfe. Oruros Innenstadt ist verstopft. Sammeltaxen fahren dicht an dicht. Zu schmal sind die Bürgersteige. Es riecht nach Essen und Pisse. Das pinkelnde Kind wird übers Straßenpflaster gehalten. Auch unterm Rock einer hockenden Frau breitet sich eine kleine Pfütze aus. 

Es ist der 6. August, bolivianischer Unabhängigkeitstag. Der Nationalfeiertagstrubel ist in vollem Gange, mit großem Umzug und Marschkapelle. Daniela, die heute extra zum  Fest nach Hause gekommen ist, schwebt in Kindheitserinnerungen. Die Marschchoreografien aus der Schulzeit beherrscht sie noch immer.  Auf der Straße marschieren nun die Erwachsenen. Der Cholita-Look der indigenen Frauen ist bunt und schön anzusehen. Die Röcke sind heute besonders schick und glänzend. Zu der typischen Cholita-Kleidung gehört der aufgebauschte Rock, der die Hüfte ausladend breit werden lässt. Die Schultern sind bedeckt von einem Tuch. Die immer schwarzen Haare sind zu zwei langen Zöpfen geflochten, an deren Enden dunkle Bommeln befestigt sind. Auf dem Kopf der flache Strohhut mit steifer Krempe oder die edler aussehende Melone.

Wir klappern die vielen Essensstände ab: fettige Feiertagstorten, wabbeliges graues Fleisch, Empanadas. An einem kleinen Wägelchen bekommt man ein Glas voll süßem Eischnee mit einem Schuss Cola. Um eine kräftige Frau und ihre dampfenden Töpfe sind drei kleine Bänke platziert. In einer öligen Pfanne brutzeln Teigfladen. Zwei mal Api, por favor. Das dickflüssige Andenheißgetränk aus Mais gibt es in rot und cremefarben, gewürzt mit Zimt und Nelken. Die zwei Farben werden wie Kiba in ein Glas gegossen. In einem kleinen Spülbecken hinterm Stand wäscht die Tochter das Geschirr. Neben Essen gibt es jede Menge Ramsch. Die Auswahl an Accessoires in den Farben der bolivianischen Flagge ist groß. Überall das Grün, Gelb und Rot. 

Nächste Station: La Paz. Jetzt sind wir drin, inmitten des Gewimmels der chaotisch schönen Stadt. Die Fußgänger passen nicht auf die Gehwege. Auf der Straße ein permanenter Stau. Busse sind rammelvoll, obwohl man zu Fuß schneller vorankommt. Die Abkassierer der vielen Collectivos, den Sammeltaxen, sprudeln in Rekordtempo die angestrebten Richtungen heraus. Zungenbrecherisch wiederholen sie ihre Ansagen in Dauerschleife. Niemand fährt hier mit dem Rad. Es geht immer hinab oder hinauf. 

Mit La Paz‘ abgefahrenstem Verkehrmittel, der Teleferico-Seilbahn, die erst seit 2014 in Betrieb ist, wollen wir die Stadt aus der Vogelperspektive erkunden. Einsteigen. Türen zu. Abfahrt. Die Gondel schwebt los. Sämtliche Stadtgeräusche werden dumpf und rücken in angenehme Entfernung. Alles Gewusel, die Hektik und die Enge der Großstadt sind hier oben für eine Weile verschwunden. Mit der Gondelbahn treiben wir fast geräuschlos über das Stadtgeschehen, schweben durch Häuserschluchten. Der Blick weitet sich über das irre Stadtbild. Ein riesiger Talkessel voller roter Häuser. Zwischen den tiefst- und höchstgelegen Häusern der Stadt liegen knapp tausend Meter Höhenunterschied. Nicht endende Treppen ziehen sich den Hang hinauf bis auf 4100m, wo La Paz nahtlos in die Schwesterstadt  El Alto übergeht. Unter uns ein Labyrinth aus Schleichwegen, Treppen und Sackgassen. An- und aufbauten verwandeln Gebäude in ein enges, verschachteltes Durcheinander. Über Dachterassen sind bunt behangene Wäscheleinen wie Wimpelketten gespannt. Einige Häuser kleben geradezu am Hang. Dort, wo die Abhänge am steilsten sind, rutschen jährlich  während der Regenzeit Erdmassen samt Häuser hinunter. Neben Erdrutschresten sehen wir die Zelte derer, die dadurch nun in der Obdachlosigkeit stecken. Am Horizont schwebt eine andere Telefericolinie. Die Stadt wirkt riesig, denn durch den gigantischen Kessel kann man sie stets in ihrer vollen Größe sehen. Je höher man steigt, desto mehr zeigt sich von der schneebeckten Hochgebirgskette Cordillera Real, die das Altiplano nach Osten hin begrenzt. Der höchste Gipfel, der 6439 Meter hohe Illimani, wo dem Namen nach die Sonne geboren wurde, thront über der Stadt. Es ruckelt. Wir fahren durch eine Zwischenstation und werden ermahnt. Wir sollen nicht nebeneinander, sondern gegenüber sitzen. Ausbalanciert. Die Angestellten des Teleferico nehmen es da ziemlich genau mit ihrer neuen Gondelbahn. Monika und Monika steigen dazu. Tochter und Mama erzählen uns, dass sie sich ihre Stadt ohne Teleferico gar nicht mehr vorstellen können. Sie lieben das neue Verkehrsmittel, mit dem man so viel schneller unterwegs ist und in dem man für kurze Zeit der Großstadt entschwebt. 

Wir gondeln über die skurrile Totenstadt des 'Cementenrio General'. In ihrer Kindheit endete die Stadt noch hier und der Friedhof lag außerhalb der Stadt, erzählt uns die Mutter. Heute ist der Cementerio mitten im Zentrum von La Paz. Wir steigen aus, bekommen aber vorher noch eine Essenseinladung für den nächsten Abend. Der 'Cementerio General', auch er ist eine kleine Oase der Ruhe im hektischen La Paz. Auf dem billigsten Friedhof der Stadt kommen die Menschen nicht unter die Erde, sondern in riesige Totenregale. Mehrstöckige Häuser schichten viele Lagen Leichen übereinander. Einen anderen Ort für die Bestattung ihrer Angehörigen, können sich die Meisten aber auch nicht leisten.

Vorm Friedhofszaun beginnt der Markt, der sich über mehrere Straßen entlangzieht. Es riecht nach Schuhcreme, Räucherstäbchen, Pisse, Popcorn und Grillhähnchen. Die tausenden Kioske mit dem ewig gleichen Sortiment besitzen allesamt ein Schnurtelefon und funktionieren als öffentliche Telefonzellen. Schuhputzer sind bis auf die Augen maskiert, damit ihnen der Dreck nicht ins Gesicht spritzt. Manchmal kommt es uns so vor, als wäre hier jeder Verkäufer. Irgendetwas verkaufen, dass ist für viele in Bolivien die einzige Möglichkeit, auch nur ein wenig Geld zu verdienen. Die vielen Verkäuferinnen sitzen von morgens bis abends hinter ihrer Ware. Jeden Tag. Einigen fallen vollends übermüdet die Augen zu. Ein pausbackiges Kindergesicht schläft auf Lauchzwiebeln, während die Mutter auf Kundschaft wartet. Tatsächlich wachsen viele Kinder auf dem Arbeitsplatz der Eltern auf: im Hamburguesa-Stand oder auf der Straße. Einige Kinder arbeiten direkt selbst. Kinderarbeit ist Realität und ab 10 Jahren, mit besonderer Gehnehmigung, sogar offiziell erlaubt. Im Arbeitsalltag verschwinden die langen Zöpfe der Marktfrauen hinterm Rücken, tauchen für ein kurzes Stück unter die Arbeitsschürze. Auf dem Markt werden Maiskolben entblättert und noch nie gesehene Riesenavocados verkauft. Wer sich bemüht, packt das Gemüse dekorativ auf grünes Gras. Andere verkaufen direkt aus Plastiksäcken. In Schubkarren werden Maispuffer transportiert. Kartoffeln in vielen Farben und Formen kann man hier kaufen. Claro, kommt doch die Kartoffel von hier. Auch diese weißen, trockenen Bällchen sind Kartoffeln, die nachts dem Frost ausgesetzt wurden und auf denen dann die Bauern herumtrampelten, bis die Feuchtigkeit aus der Knolle verschwandt. So halten sie sich mehrere Jahre. Fisch aus dem Titicacasee brutzelt in der Seitenstraße. Der CD- Verkäufer zeppt lautstark durch sein Musikangebot.  Alles ist neu und anders hier, auch, dass wir uns wesentlich mehr ins Zeug legen müssen, um in lächelnde Gesichter zu blicken.

Neben dem berühmten Plaza Mayor de San Francisco, im Mercado Lanza, einer sich über mehrere Stockwerke ziehende Ansammlung von Metallcontainern, sind die Containerreihen nach Angebot und Farben sortiert. Es reihen sich Blumenläden aneinander, Gemüseläden neben Gemüseläden. Die Container in den oberen Etagen bilden jeder für sich ein kleines Restaurant oder Café. Die Verkaufscontainer sind alle nach ihren Betreiberinnen benannt. In den rosa Containern kann man bei Angélica oder Doña Betty Mittag essen. Gloria und Paola bieten in der gelben Reihe Api an. Bei Yovana im orangenen Container gibt es dünnen Kaffee mit Wasser und Kondensmilch, dazu Avocadobrötchen. Die Regale sind mit Rüschendeckchen verziert und bestens sortiert: Kaffeepäckchen, Mayonnaise und Geschirrtücher. Alles hat seinen Platz. Jeder freie Zentimeter ist mit Nippesfigürchen dekoriert. Vorm Radio steht Ernie. Das Minicafé ist so eng, dass die Tassen direkt im Nacken gespült werden. 

La Paz ist eine einzige Entdeckungsreise. Jetzt aber sind wir bei unserer Teleferico-Bekanntschaft zu Hause und genießen den herzlichen Familienabend mit den Herzblut- La-Pazern. Bolivianische Alltagsgeschichten über das mehr oder weniger gelungene Zusammenleben von der indigenen Bevölkerung und den europäisch Stämmigen. Wir hören von den Veränderungen im Land seit dem Amtsantritt von Evo Morales im Jahre 2006:  die indigene Bevölkerung hat mehr Rechte bekommen, das verarmte Bolivien wurde mehr und mehr aus postkolonialen Abhängigkeiten herausgeholt.  Aber Evo Morales hat sich auch an seine Macht gewöhnt, will das alleinige Machtmonopol behalten und trotz der Abstimmung der Bevölkerung gegen eine weitere mögliche Amtsperiode, tritt er auch dieses Jahr wieder zur Wahl an. Die Angst vor einem neuen Diktator steht im Raum. Es geht heute Abend um ein Bolivien mit all seinen Problemen, inklusive Korruptionsgeschichten.  Aber immer wieder hören wir den einen Satz: "Bolivien ist ein junges Land"... Monika und ihre Schwester Laura, beide Anfang zwanzig, wollen dazu beitragen, das aus ihrem geliebt-gehassten Bolivien ein besseres Land wird.

Die Satteltaschen sind wieder gepackt. Wir verlassen die Casa de Ciclistas in La Paz, einer alten Stadtvilla, an deren Wänden sich bereits hunderte Radreisende verewigt haben. Tatsächlich haben wir uns im Gästehaus eingetragen, unter den Nummern 2348 und 2349. Nochmals rein in den Teleferico. Diesmal kommen die Räder mit. 

 

Wir radeln von El Alto in Richtung Norden zum Titicacasee. Auch wenn Bolivien keinen Zugang zum Meer besitzt, der Titicacasee sieht zumindest aus wie eines. Zwei Tage geht es die wenig befahrene Nordküste entlang am tiefblauen See, der sich über zwei Länder erstreckt. Hier verlassen wir Bolivien und radeln in das jetzt vor uns liegende Peru.