Ecuador - Regenzeit, Äquatorsonne und Küstennebel


Hörend mitradeln:


Die Sonne knallt. Schweiß läuft mir über das Gesicht. Bergauf fehlt der kühlende Fahrtwind. Ecuador begrüßt mich mit extrem steilen Anstiegen und ohne Asphalt. Die Regenzeit hat bereits ihre Spuren hinterlassen. Erdrutsche machen aus der Straße immer wieder ein schlammiges Etwas oder halbieren die Fahrbahn. Mit dem Grenzübergang La Balsa ist es schlagartig weniger dünn besiedelt. Müll ist mit einem mal verschwunden. Die Piste schlängelt sich durch dicht bewachsene, grüne Berge, vorbei an vereinzelten Häuschen. Viele sind aus Holz gebaut. Die Gegend ist in ein permanentes Grillenzirpen getaucht, teilweise in unangenehmer Lautstärke und Frequenz. Und jetzt schwenkt dieser unsichtbare Chor merkwürdig zwischen laut und leise hin und her. Selten kommt ein Auto vorbei. Jetzt mischen sich die Neunziger mit in das Vogelgezwitscher. Aus dem weit entfernten Radio wummert Mr. Presidents „Coco Jambo“ und treibt mich den Berg hinauf. Ein komisches Gefährt kommt auf mich zu: eine bunte Senfte mit Satteltaschen, zwei Räder. Eine kleine Familie, die sich hier durch die Berge strampelt. In der lustigen Bude vorne schläft das zweijährige Kind und bekommt von den Anstrengungen seiner Eltern nichts mit. Das andere Kind ist im ziemlich großen Bauch der schwangeren Mama. Diese verrückten Radlerfamilien trifft man immer wieder mal unterwegs und irgendwie kommen sie alle aus Frankreich.

In Loja, der ersten ecuadorianischen Stadt, regnet es wie aus Gießkannen. Menschen stehen unter den überdachten Gängen und warten. Wer sich jetzt rauswagt, ist binnen Sekunden vollkommen durchnässt. Der Regen hält an. Auch nachts platschen dicke Tropfen auf die bereits überschwemmte Straße. Auf den täglichen Nachmittagsregen kann ich hier zählen, trotz meiner verbrannten Nase der sonnigen Vormittage. Heute radel ich nach Cuenca, wo mich Hanna erwartet. Und auf dem Weg dahin stelle ich mir mal wieder die gleiche Frage und ich glaube, ich werde es einfach nie verstehen... Warum verkaufen an einem Ort immer alle das Gleiche? In Asien ist uns das schon aufgefallen. In Südamerika ist das Bild genauso. Straßenstände oder Läden: oft stehen identische Stände zu dutzenden nebeneinander, das gleiche Angebot. Heute sind es etliche Schweine am Spieß, an denen ich vorbei radle. Die werden gerade am Straßenrand mit großen Gasbrennern flambiert.

Während Arne schon seit Tagen durchs Land radelt, steige ich jetzt in Cuenca aus dem Bus und befinde mich auf einmal irgendwo in Ecuador. Straßen und Fußwege sind gefegt. Mülleimer stehen in der Stadt. Sogar die Grünfläche unten am Fluss ist vollkommen sauber. Straßenhunde sehe ich nicht. Rolläden sind noch unten und die Läden geschlossen. Die Sonne geht gerade erst auf und es dauert noch eine Weile, bis man in Cuenca irgendwo den Geruch von Kaffee vernehmen kann. Das Morgenlicht scheint in die Kopfsteinpflasterstraßen der Altstadt. Eine Gruppe Schulmädchen läuft gemeinsam mit zwei Nonnen auf dem sonst leeren Gehweg. Bestimmt besuchen auch diese Kinder eine der vielen katholischen Schulen des Landes. Auf dem Blumenmarkt stehen die bunten Blüten schon verkaufsbereit an den Ständen. Sie haben die Nacht draußen verbracht, gemeinsam mit dem Nachtwächter. Die pastellfarbenen Häuser des 'centro histórico' stammen aus der Zeit der spanischen Konquistadoren und der jungen Republik. Es vermischen sich Stuck, kleine Balkone, kunstvoll geschnitzte Holztüren und Fensterläden, einfache Lehmhäuschen und abblätternde Farbe in der Altstadt. Dazwischen Mauern mit kunstvollen 'murales', den riesigen Wandmalereien Südamerikas, oft politisch und besonders bunt. Cuencas Altstadt ist eine große Ansammlung an kleinen Plätzen und Häusern, an Kirchen und Kathedralen, Bogengängen und Innenhöfen. Gärten sind nirgends zu sehen, denn typischerweise fand das Familienleben in den Innenhöfen der Häuser statt, den Patios. In den besonders prachtvollen Höfen plätschern die Springbrunnen auch heute noch. Langsam wird es in der Stadt trubeliger und nun wird die eigentliche Besonderheit des Zentrums sichtbar. Die Menschen wohnen und arbeiten hier. Kinder gehen zur Schule. Die Altstadt hat keinen Museumscharakter, sondern gehört den Cuenceños. In den Arkaden des 'plaza mayor' lassen sich die Menschen ihre Schuhe putzen. Sie sitzen an den plätschernden Brunnen der Stadt und kaufen sich süße Ei-Schnee-Creme in der Waffel, Softeis zum verwechseln ähnlich. Sie überqueren die Straße zum Ruf des Kuckucks, der aus den Ampel-Lautsprechern ertönt. In den duftenden Bäckereien hängen kleine Körbchen zum selber füllen. Aus den Imbissen strömt der Geruch von Frittierfett nach draußen. Das typische und günstige Straßenessen ist fettig. Und  auch an den Menschen sehen wir viele Fettpölsterchen, oft selbstbewusst in enge T-Shirts und Kleider gepresst. Auf Werbeschildern stehen jetzt Preise in US-Dollar.

Die Wochenmärkte sind deutlich hygienischer geworden. Und die 'sección comida' ist nun ziemlich schweinelastig, vom gebackenenen Schwein bis zur gekochten Schwabbel-Schwarte ist alles dabei. Auch hier sirren wieder fleißig die Saftmixer. Unten an den Ständen hat man die Wahl zwischen verschiedenen, warmen 'coladas'. Das Weiße ist flüssiger Milchreis, das rote 'colada morada' gibt es nur jetzt, um die Zeit des 'día de los muertos' herum. 'colada morada' ist ein dickflüssiges Getränk aus rotem Mais und verschiedenen Früchten, Beeren und Ananas, gewürzt mit Nelken und Zimt. Dazu brutzeln die verschiedensten Fladen aus Mais, Maniok oder grünen Bananen. Überall sehen wir Bananen: dicke Stauden, riesige und kleine, gelbe und grüne. Ecuador ist einer der Hauptexporteure von Bananen weltweit. Klar, dass hier die Frucht in allen möglichen Zubereitungformen auf dem Teller landet. Allerdings spielt die, für uns so wichtige, gelbe Banane hier gar nicht so eine bedeutende Rolle. Vor allem die 'platano verde', die größere und kantige grüne Banane, ist Grundnahrungsmittel. Die kann man nicht roh essen. Sie wird gekocht wie bei uns Kartoffeln, gegrillt, gebraten oder anderweitig weiterverarbeitet. Hier zu 'bolón de verde' - dicke Bällchen aus Kochbananen, gefüllt mit Käse oder Fleisch.

Zurück auf der Straße ist die Musik des Gasflaschen-Autos zu hören. Gasflaschen landen hier in jedem Haushalt und sind essentiell fürs Kochen und Duschen. Während der gerade vorübergegangenen, zwei Wochen andauernden Proteste, vernahm man die Musik nicht. Nahezu alle Straßenverbindungen des Landes waren blockiert und Zufahrtswege der Städte gesperrt. Es kam zu Versorgungsengpässen und das Gas ging einigen Menschen aus. Auch nach den Protesten lief die Musik des Gasverkäufers erst mal eine Weile nicht, um nicht gleich überrannt zu werden, erzählt uns K-Pete, mit dem wir jetzt durch Cuenca spazieren. Der ist hier für ein halbes Jahr zum Auslandsstudium. Dass hier vor zwei Wochen noch Straßenschlachten tobten, merkt man der Stadt nicht an. Nur wenn wir genauer hinschauen, sehen wir die fehlenden Steine im Straßenpflaster oder die schwarzen, runden Spuren, die die brennenden Autoreifen hinterlassen haben. K-Pete zeigt uns seine von der Straße aufgelesene Sammlung an Gaspatronen, die hier auf die Demonstrierenden geschossen wurden. Auslöser der landesweiten Proteste war die Erhöhung der Benzinpreise. Nachdem sich die Regierung Ecuadors einen großen Kredit beim IWF geliehen hat, muss diese nun Sparmaßnahmen umsetzen. Die immensen Subventionen für Sprit wurden spontan gestrichen, womit sich der Dieselpreis über Nacht verdoppelte. Für die Menschen hier bedeutet das den Anstieg aller möglicher Kosten. Da der gesamte Verkehr über die Straße abgewickelt wird, würden Lebensmittelpreise auch ansteigen. Öffentlicher Transport würde teurer werden. Die Masse, die hier vom 400 Dollar Mindestlohn leben muss, wobei die Lebensunterhaltungskosten recht hoch sind, muss bereits jetzt schon an allen Enden sparen. Diejenigen träfen die Erhöhungen wohl besonders hart. Und so ist aus dem Bus- und Taxifahrerstreik binnen Kürze ein landesweiter Protest geworden. Die Taxi-Union, Bauern der Gegend, Indigenenverbände, einfache Bürger. Nach zwei Wochen Ausschreitungen nahm die Regierung die Subventionsstreichungen zurück. Das Land hat sich wieder beruhigt. Wie lange das so bleibt, darüber sind sich diejenigen, mit denen wir uns unterhalten, uneinig. Auch Ecuador ist ein Land großer sozialer Ungerechtigkeiten und viele Menschen in Südamerika scheinen dieser überdrüssig zu sein und ihre Wut und Frustration wird gerade in vielen Staaten gleichzeitig auf die Straße gebracht. 

Nach ein paar Tagen Cuenca schwinge ich mich wieder aufs Rad, immer noch alleine unterwegs. Der November ist hier in den ecuadorianischen Bergen ein verdammt verregneter Monat. Keine Saison der kleinen Bergwege, denn die sind jetzt steile Schlammpisten. Spektakuläre Vulkanaussichten verschwinden im Nebel, spätestens mittags zieht sich der Himmel zu. Mich führt  der direkte und asphaltierte Weg in den Norden des Landes in Richtung Quito. Radfahralltag - bestimmt von Wetter, Essen und Verkehr. Was das Essen angeht:  ganz einfach ist es nicht, in den  Imbissen und Märkten etwas Vegetarisches zu finden. Mal wieder gibt es 'papas fritas' - Pommes. Den zunehmend dichteren Verkehr hinter Riobamba - den halte ich jetzt mittels Stock und gelben Stofffetzen auf Abstand. Das Wetter- das wechselt zwischen Sonne und Weltuntergang wild hin und her. Kurz erhasche ich einen Blick auf den schneebedeckten Chimborazo, die Spitze des über 6000m hohen Vulkans allerdings bleibt in den Wolken. Der noch aktive Vulkan Cotopaxi versteckt sich hingegen gänzlich im Grau, passend zur Landschaft um ihn herum. Im so nahen Himmel über mir braut sich das nächste Unwetter zusammen. Pitschnasses Fahrradfahren – auch heute wieder.

Quito, Ecuadors Hauptstadt, ist merkwürdig in die Länge gezogen, denn ausbreiten konnte sich die schnell wachsende Stadt nur nach Norden und Süden, das Andental entlang. Auch Quito ist von Hauptverkehrsstraßen dominiert, eine Autostadt ohne alternative Verkehrsmittel. Eine Stadt der Staus, in der es keinen Unterschied macht, ob man für vier Kilometer in den Bus steigt oder einfach zu Fuß geht. In den Straßen gibt es kein Platz für Fahrräder. Aus gelben Taxen und blauen Bussen schießen schwarze Abgaswolken in die Luft. Ein Fahrverbotssystem soll den Individualverkehr eindämmen. Je nach Endziffer des Nummernschildes darf das Auto an einem Tag der Woche nicht auf die Straße. Straßenverkehr und betonierte Großstadt bleiben jetzt allerdings draußen. Der Garten von Familie Arteaga ist eine grüne Oase im Grau. Ich bin bereits bei  alten Freunden von unserem Freund Sascha untergekommen. Susi wohnt hier mit ihrem Mann Riccardo und den beiden erwachsenen Kindern Mateo und Pamela im riesigen Mehrgenerationenhaus. Auch Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen leben hier und die Großmutter. Alle unter einem Dach, aber jede Familie in ihrer eigenen Wohnung. Der Pickup von Susi und Ricardo mit der Nummer 8 am Nummernschild muss donnerstags stehen bleiben. Und da heute nicht Donnerstag ist, sitze ich jetzt mit Susi und Mateo im Auto. Wir wollen Arne den Quitoer Stadtverkehr ersparen und sammeln ihn ein. Wir ziehen unten in ein Zimmer der Großmutter und wohnen ab jetzt in einer WG mit Señora Susanita und ihren zwei Pflegerinnen. Nur noch selten gehen die hinter der Brille vergrößerten Augen der Senora weit auf. Die alte Frau wirkt abwesend. Ihr Alltag ist mittlerweile getaktet von Mahlzeiten, vielen Nickerchen, langsamen Schritten an der Gehhilfe und Physiotherapie. 

Heute ist Sonntag und wie jeden Sonntag ist die große Haupstraße, die sich einmal quer durch die Stadt zieht, für Autos gesperrt und für Radfahrer, Inlineskater und Jogger freigegeben. Riccardo und Mateo sind mit Sattelpolstern und Schweißbändern ausgerüstet – die Fahrradtour durch die Stadt kann beginnen. Die große Straße ist voller Menschen, sogar Getränkestationen sind aufgebaut. Wir rollen über die Landebahn des stillgelegten Flughafens, dem Tempelhof Quitos. Im 'Parque La Carolina' treffen sich die Quiteños auf den Tennis- und Volleyballplätzen. Die Essensverkäufer haben viel zu tun.  Die dröhnenden Beats der öffentlichen Aerobic-Stunde ballern über die Wiese hinweg. Den Platz unter der kleinen Brücke des botanischen Gartens hat sich heute der Ukulele-Spieler gesichert. Maler stellen kitschige Bilder aus. Nur der eine Platz am Parkeingang, der ist reserviert für das russische Straßenmusikerduo. Vater und Tochter spielen hier seit Jahren jeden Sonntag und sind stadtbekannt. 

Wir radeln  nach Süden in Richtung „panecillo“, dem runden Berg mit der riesigen Figur der Virgen de Quito. Dort ist die Altstadt gelegen und in die geht es jetzt hinein. Das historische Zentrum wurde als Schachbrett gebaut, ungeachtet des Untergrunds. Und so ziehen sich steile Straßen, stur und quadratisch angelegt, die Hügel rauf und runter. Die Gassen sind eng. Mitte des 16. Jahrhunderts mussten hier noch keine Autos durchpassen. Die Enge wird immer wieder aufgelöst durch Plätze, auf denen sich die Stadt kurzzeitig ausdehnt. Kirchen, Kathedralen und Klöster überall. Der Holzboden in der Iglesia del Sagrario knarzt unter den Füßen der Touristen und Kirchgängern. Schnitzereien sind von Blattgold überzogen. Eine Kirche ist prunkvoller als die andere. Der Innenraum der Iglesia la Compañía ist eine einzige Masse goldener Schnörkel und Verzierungen. Gebete und Gesänge dringen durch die offenen Kirchenpforten nach draußen. Die Messen sind gut besucht. Die riesige neugotische Basílica, Quitos Notre Dame, ist kalt und grau. Die steinernen Wasserspeier der Kirche thronen über der Stadt. Es sind Tiere des Landes: Schildkröten, Gürteltiere und Pelikane. Unter den Türmen der Basilika die Ziegeldächer, Kuppeln und Kirchturmspitzen der Altstadt. Das historische Zentrum ist in besonderem Maße erhalten – Weltkulturerbe. Aber trotz der vollen Straßen ist der Stadtteil abseits der Gottesdienste und der Touristengruppen wenig belebt. Hier wohnt kaum jemand, der Leerstand ist enorm. Viele Gebäude verkommen und verfallen. Ganz im Kontrast zu Cuencas lebendiger Altstadt, ist das centro histórico Quitos ein Ort, den man als Quiteño nur besucht, wenn man im Tourismus arbeitet oder Gäste hat, die man durch die Stadt führen will, so wie jetzt Riccardo und Mateo uns. Mateo erzählt uns die Stadtgeschichten sogar auf Deutsch, welches er nach einem Austauschjahr in Hoyerswerda super beherrscht. Kaffee auf der menschengefüllten Plaza Grande, dem einzigen grünen Platz in der Alstadt, von Palmen und Pflanzen gesäumt. Hier versammeln sich die Mächte des Landes. Der Präsidentenpalast ist seit den Protesten eingezäunt und bleibt es noch eine Weile. Heute ist es voll auf der Plaza. Hier findet an diesem Wochenende das nationale Folklorefestival statt. Tanzgruppen aus dem ganzen Land sind angereist, farbenfroh gekleidet in landestypische Trachten, mit großen Hüten und Reiterhosen. Auf den Stufen der Kirche drängen sich die Menschen, um die traditionelle Musik zu hören und die verschiedenen Tänze zu bestaunen.

 

Die Altstadt Quitos ist nur ein winziges Fleckchen auf der Stadtkarte. Und die entspannte Sonntagsstimmung Ausnahme. Der Gegensatz zwischen dem berühmten Kulturerbe und dem modernen Quito könnte nicht größer sein. Die vom Verkehr dominierte Neustadt ist eine Stadt der Straßen- und Busverkäufer, der Scheibenputzer, Jongleure und Artisten. Zwischen den Autos an den vollen Straßenkreuzungen ist es wuselig. Die grünen Mittelstreifen der Hauptstraßen sind von Trampelpfaden durchzogen. Es sind die Wege der dutzenden Verkäufer, die nach der roten Verkaufs-Ampelphase wieder ganz nach vorne laufen, um gleich erneut Getränke, Snacks oder Sonnenbrillen in den Autoschlangen an die Leute zu bringen. Der Kreislauf derjenigen, die hier irgendwie über die Runden kommen. Jeden Tag aufs Neue. Die Zahl der informellen Händler ist auch in Ecuador auffällig hoch, ein Zeichen dafür, wie viele auch hier am Minimum leben. Sie zahlen weder in die Sozialversicherung ein noch zahlen sie Steuern. „Nicht bei den Informellen kaufen.“, heißt es auf dem großen Plakat der Regierung. Dennoch ist das für viele überhaupt die einzige Möglichkeit, irgendwie Geld zu verdienen. Zumal unter ihnen einige geflüchtete Menschen aus Venezuela sind, die hier offiziell gar nicht existieren und keine Arbeitserlaubnis haben. Zu den Dienstleistern der Straße gehören auch die kleinen Schuhputzer, manche nicht älter als zehn Jahre, die für sich oder ihre Familie Geld verdienen müssen. Sie arbeiten und gehen nicht in die Schule. Auch hier begegnet uns wieder eine Klassengesellschaft, abhängig von Hautfarbe und Geld. Diese Teilung der Gesellschaft manifestiert sich spätestens im Grundschulalter. Diejenigen, die besser gestellt sind, besuchen Privatschulen und später private Universitäten. Hier ist es nahezu unmöglich, den sozialen Aufstieg zu schaffen, solange gute Bildung exklusiv den Reichen vorbehalten ist. Seit Generationen entstammen politische Entscheidungsträger der hellhäutigen Oberschicht, die, ob nun bewusst oder unbewusst,die Kluft zwischen den Klassen aufrecht erhält. 

 

Diese Sorgen bleiben außerhalb der Mauern des großen Hauses von Familie Arteaga mit dem schönen Garten. Schnell wird klar, dass diese Welt hier wenig mit der der Straßenverkäufer auf der anderen Seite der Mauer zu tun hat. Sogar der morgendliche Spaziergang bleibt innerhalb der Mauern. 20 mal ums Haus statt einmal um den Block. Wir gehören sofort zur Familie und mit an den Küchentisch. Susi bekocht uns und ihre Familie mit ecuadorianischen Köstlichkeiten: Locro (eine Art Kartoffelsuppe), Aji (typisch scharf- fruchtige Soße), Maisfladen, Colada Morada und Avocadosuppe. Wir fahren gemeinsam auf den La Floresta Nachtmarkt, um uns durchzuprobieren. Schlange stehen am dampfenden Grill im dichten Rauch, überall zischt es. Röstaromen steigen in die Nase und in angrenzende Wohnzimmer. Menschen drängeln sich an die Essensstände, Verkäufer rufen lauthals ihr Angebot in die Nacht, Radios laufen und Musiker spielen. Wir lernen „40“ und zocken mit in den abendlichen Kartenspielrunden. Das Spiel, das schon immer alle spielen und man sich aber dennoch über die Regeln nicht so ganz einig ist. Nur beim Zählreim ist klar, so wie ihn Mateo aufsagt, ist es richtig. 

Edyerlin und Rosmary, die beiden venezolanischen Pflegerinnen, kümmern sich im 24-Stundentakt abwechselnd um die Señora. Sie verdienen das monatliche Grundgehalt von etwa 400 Dollar. Zusätzlich zahlen die Arbeitgeber für Kranken- und Sozialversicherung. 40-Stunden-Wochen, Mindesteinkommen und Krankenversicherung sind laut Arbeitsrecht vorgeschrieben. Das geht jedoch nicht immer mit den realen Arbeitsbedingungen einher. Die beiden Pflegerinnen der Señora bekommen zwar das Grundgehalt, arbeiten dafür aber mehr als doppelt so viele Stunden. Bei den gesetzlich vorgeschriebenen vierzehn Monatslöhnen sind das bei den 84-Stunden-Wochen gerade mal 1,25 Dollar pro Stunde. Und da Edyerlin noch keine Papiere hat, ist die ausgebildete Krankenschwester auch nicht krankenversichert. Sie wartet immer noch auf ihr zweijähriges Arbeitsvisum, das sie wohl im nächsten Monat bekommen wird. Liebevoll gehen die jungen Frauen mit der Señora um, stets ein Strahlen im Gesicht. Aber leicht haben sie es nicht. Wohltuend ist da der gemeinsame Kakao am Küchentisch, an dem man mal kurz unter sich ist und sich austauschen kann. Marta gesellt sich dazu. Sie putzt in verschiedenen Wohnungen im Haus, ihre kleine Tochter auf den Rücken gebunden. Ihr Mann Jorge kümmert sich um den Garten der Familie, wäscht die Autos oder reinigt das Treppenhaus. Dienstpersonal bei sich zu Hause anzustellen, ist auch hier in Ecuador ab der Mittelschicht aufwärts seit Generationen ganz normal. Dienstmädchen zum Kochen, Putzen und für die Kinderbetreuung. Wir alle hatten unsere 'empleadas' zu Hause, erzählen die Freundinnen von Pamela. Diese Frauen werden dann nicht selten eine merkwürdige Mischung aus Angestellten und Familienmitgliedern. Betont wird  häufiger, dass bei einem zu Hause die Angestellten besser behandelt werden als in anderen Familien. Aber dass den empleadas höhere Löhne bezahlt werden, man Wert auf die Einhaltung der Arbeitszeit legt und man somit eine wirklich anerkennende und wertschätzende Maßnahme schafft, ist wohl eher die Seltenheit. Der Status Quo wird aufrechterhalten und erneut in die nächste Generation getragen.

Mit Rosmary, Señora Susanita und Edyerlin
Mit Rosmary, Señora Susanita und Edyerlin

Hanna kann noch nicht weiterfahren. Also wollen wir in der Hängematte und nicht in der Großstadt abhängen. Wir sind am 'terminal' in Quito und suchen uns unter all den laut schreienden Ticketverkäufern der vielen Transportfirmen eine Verbindung ans Meer. Über Nacht fahren wir an den Pazifischen Ozean. Früher war Salinas noch ein kleines Dorf. Mittlerweile wurden weiße und verbrecherisch hohe Hochhäuser direkt an den Strand geklotzt. Das Miami Ecuadors mit seinem Erste-Reihe-Bauverbrechen ist jedoch nur am Strand auf schick gemacht. Dahinter ist Salinas merkwürdig tot, viele Häuser stehen leer. Nur während der Hochsaison und am Wochenende ist der Strand voll: es reihen sich Sonnenschirme aneinander, Bikinis werden spazieren geführt, Verkäufer wuseln von Liege zu Liege, bieten kalte Kokosnüsse, Schmuck oder Massagen an. Wer aufs Wasser schaut, sieht gleichzeitig die Werbe-Bojen: Handyanbieter und Bierfirma drängen sich in den Meerblick. Der Pazifik ist klar, blau und ruhig in der Bucht. Im glatten Wasser sind die Fische gut zu erkennen. Ein Paradies für die Pelikane, die direkt am Strand ihre Beute jagen. Unentwegt kreisen sie über dem flachen Wasser umher, bis sie sich senkrecht nach unten stürzen und auf die Wasseroberfläche plätschern. Den Fisch würgen sie den Hals hinunter. Bis auf die Pelikane hält uns hier aber nichts, also fahren wir die Pazifikküste entlang Richtung Norden weiter.

 

Die Costa nördlich von Salinas ist trocken. Vor der Küste warten große Frachtschiffe darauf, mit Öl betankt zu werden. Seit den 1970er Jahren ist Ecuador in großem Maße vom Erdölexport abhängig. Daneben werden Bananen angebaut, Kakao und Blumen. Industrie gibt es kaum. Durch die starke Fokussierung auf ein einzelnes Exportprodukt, ist das Land extrem abhängig von den weltweiten Erdölpreisen. Ist der Ölpreis niedrig, sinken die Staatseinnahmen merklich. Das Erdöl, das nun seit fast 50 Jahren gefördert wird, hat für den großen Teil der Bevölkerung wenig Reichtum gebracht. Doch die Ölförderung bedroht zunehmend die Lebensgrundlage von Naturvölkern im Osten des Landes und die ökologischen Schäden werden immer größer. 

Auf einmal wird es schlagartig grün. Ein Dorfschild gibt es nicht. Aber hier muss Ayampe sein. Ein Ort am Strand, umgeben von Regenwald. Im Dorf sind die Menschen langsam auf  alten, klapprigen Fahrrädern unterwegs. „Se vende Coco“ steht auf dem Holzschild des kleinen Kokosnussverkaufs. Kokosreste liegen vorm Hackklotz. Der Mann verlässt seinen gemütlichen Platz, schlurft mit einer kalten Kokosnuss nach vorne und öffnet sie mit der Machete. Menschen baumeln in Hängematten.  Dorfläden verkaufen nur das Nötigste und die Kassen sind meist leer. Die Verkäuferin stöhnt erschrocken auf, als wir mit dem 20-Dollar Schein bezahlen wollen: so viel Wechselgeld hat sie nun wirklich nicht. Für größere Einkäufe muss man mit dem Bus in die Stadt. Oder man wartet einfach auf die vielen fahrenden Verkäufer, die die Küstenorte abklappern und direkt an den Haustüren der Costeños verkaufen. Da kommt er schon, der Obstverkäufer- hat alles hinten auf der Ladefläche. Der Rhythmus ist hier ein anderer und bald geht er auf uns über. Hängematte, Lesen, Würfeln, Essen, Strandspaziergänge. Die Welle bricht hier dauerhaft in der Bucht. Einheimische Surfer stehen die Wellen und tanzen auf ihnen elegant herum, als wäre es ein Leichtes. Krabben tippeln im Seitwärtsgang zu ihren Löchern und verschwinden darin, sobald man sich ihnen nähert.  Männer schleichen am Meer entlang, suchen die Wasseroberfläche nach Fischschwärmen ab, das Netz zum Auswerfen in ihren Händen bereit. Am kleinen Fluss leben grüne Leguane, mit dem langen Schwanz locker ein Meter lang. Was für spezielle Tiere mit den Drachenzacken, den langen Kletterkrallen und der großen perlmuttschimmernden Wangenschuppe. Der Fluss fließt aus dem dichten Wald heraus. Unterm Blätterdach versammeln sich große Blüten und es vermischen sich die Stimmen der vielen Vögel mit dem Knacken und Rascheln der Bäume. Kolibris fliegen von Blüte zu Blüte. Ihre kleinen Flügelchen schlagen sie so schnell, dass sie beim Fliegen stets leise brummen, als wären sie motorbetrieben. Sie vollführen ihre Flugkünste, bleiben in der Luft stehen, fliegen vorwärts, rückwärts und seitlich. 

In Ayampe bekommt man ein anderes Gefühl von Zeit. Es ist ruhig. Die Luft ist gut. Das Meeresrauschen ist bis ins Bett zu hören. Es gibt wohl keinen richtigen Zeitpunkt, einen solchen Ort wieder zu verlassen. Jetzt aber sammelt uns der Küstenbus von Ayampes kleiner Haltestelle ein. Es geht zurück, einmal über die grünen Berge. Vorbei an Kakao- und Bananenplantagen, deren Enden teils nicht zu erkennen sind, bis wir wieder bei unserer Familie in Quito ankommen. Ich kann leider noch nicht mit Arne weiterradeln und nehme von hier aus den Bus nach Kolumbien.

Bei bestem Radelwetter geht es für mich über die Hauptstraße nach Norden in Richtung Kolumbien. Am dritten Tag komme ich am El Ángel Nationalpark an, in den ich jetzt im kühlen feuchten Morgennebel hineinradle, einen kleinen Pfad an der laguna de razococha vorbei und durch ein Meer aus merkwürdigen Pflanzen. Sie erinnern an zusammengestauchte, dicke Palmen mit viel zu kleinen Palmenwedel. Sehen aus wie Baumstümpfe mit pelziger, grün-silbriger Frisur. Gespenstisch wirken die Lebewesen, die im dichten Morgennebel verschwimmen.  Als der Nebel verschwindet, wird die Sicht auf die Berghänge freigegeben, die bis zum Horizont mit den großen Freilejones überwuchert sind. Ich bin alleine unterwegs, umgeben von Millionen von Pflanzen, die Bewohner dieser Berge hier im Norden Ecuadors. Die Piste durch den Nationalpark ist eine einzige Matschbahn. Trotzdem endet der Nationalpark viel zu schnell. Ich radel meine letzten Meter in Ecuador bis nach Tulcán, dem Ort an der kolumbianischen Grenze.