Colombia - Caña, Koks und Weihnachtskitsch


Hörend mitradeln:


“Bienvenido a la República de Colombia” steht auf dem großen Schild am Grenzübergang zwischen Ecuador und Kolumbien. Heute reise ich, noch alleine auf dem Fahrrad unterwegs, nach Kolumbien ein, unser letztes Land in Südamerika.

 

Und so befinde ich mich kurze Zeit später in Ipiales, der ersten Stadt hinter der Grenze, die zwar nicht so furchtbar wie ein klassischer Grenzort aussieht, mich aber dennoch mit ordentlich Trubel und Durcheinander begrüßt. In den Wechselstuben tauscht man einen Dollar in etwa dreieinhalb tausend kolumbianische Pesos um. Die Straßen und Bürgersteige sind voller hölzerner Marktkarren: eine zusammengebretterte Kombination aus Sack- und Schubkarre, klobig schwer und mit viel Platz auf der Ladefläche. Eine ist beladen mit Jesuskind-Plastikpuppen. Andere mit Obst, Klamotten oder Weihnachtsdeko. Auch Bolívar hat so einen Karren, den er jetzt von seiner Regenplane befreit. "Volkswagen, Volkswagen", sagt er lachend und präsentiert mir stolz sein Modell: blau-rot angemalt, robust und mit einem VW-Logo vorne aufgeklebt.

 

In den frühen Morgenstunden ist die Stadt überraschend ruhig. Feuchtigkeit liegt in der Luft, die ganze Nacht hat es geregnet. Noch ist nicht viel los, bis auf eine kleine Marienprozession. Die Jungfrau wird auf einer Senfte feierlich durch die Straßen getragen. Ich radel los. Hinter Ipiales werden Berge und Ebenen von tiefen, steilen Flusstälern durchschnitten. Das Tal des Río Guáitara wird überspannt von der eindrucksvollen Brückenkirche, der 'Santuario de las Lajas'.

Seit Argentinien begleitet uns diese unglaublich riesige Andengebirgskette. Auch durch Kolumbien ziehen sich die Berge, sogar noch bis nach Venezuela. Aber hier sind die Anden kein einziges Bergmassiv mehr. Sie teilen sich auf in drei einzelne Gebirgszüge, die Kordillieren, die Westkolumbien in geografische Längsstreifen unterteilen. Dazwischen liegen Täler und Wasserläufe. Hanna und Ich werden uns erst in Popayán wiedertreffen. Bis dahin aber warten noch ein paar Bergetappen auf mich. Die nächtlichen Regengüsse rinnen jetzt die sattgrünen, bewachsenen Felswände hinunter. Dort, wo Wasserfälle auf den Boden prallen bilden sich Nebelschwalle. Der Straße sieht man die Regenzeit an. Arbeiter räumen den Weg von Steinschlägen und Erdrutschen.

In der Stadt Pasto ist die Hölle los, alles und jeder ist unterwegs. Es ist Wochenende, noch dazu in der Vorweihnachtszeit und die Leute sind im Kaufrausch. In der Haupteinkaufsstraße hat wirklich jedes Geschäft eine Riesenbox aufgestellt, manche spielen laut Musik, andere Läden haben einen mit Mikrofon bewaffneten Menschen vor dem Eingang stehen, dessen wilde Preis- und Angebotsansagen aus der Box dröhnen. An den Straßenständen verkaufen mal wieder alle das Gleiche, heute werden lautstark “las velas”, bunte Kerzen angeboten, die heute Nacht millionenfach im Land leuchten werden. In der Noche de las Velitas vom 7. zum 8. Dezember, zünden die Menschen in Kolumbien Kerzen und Lichter an, damit die heilige Maria den Weg zu ihrem Haus findet und es segnen kann. Noch ist von heiliger Stimmung aber nichts zu merken, außerdem verschwindet auch Pasto heute wieder im Regen. Während ich in der panadaría Kaffee schlürfe, stets mit Strohhalm und 3 Beuteln Zucker serviert, dringen die lauten Feiergeräusche von der Straße nach drinnen, die Diablos Rojos, die roten Teufel aus Cali, sind gerade Pokalmeister geworden.

Die Tage sind jetzt für mich ein lustiger Mix aus schöner Natur, trubeligen Orten und Weihnachtskitsch. Ich radel in Richtung Osten mit einem Blick auf die Laguna de la Cocha. Fast immer schallt Musik von dort, wo sich Menschen aufhalten, jetzt dringt kolumbianischer Hüttengaudi aus der nahegelegenen Box. Viele haben Blumen in ihren Gärten, manche selbstgebastelte Weihnachtsbäume: mal aus Draht und Puschelgirlande, mal aus aufeinandergestapelten Autoreifen. Auch in San Francisco geben blinkende Lichterketten, riesige Lichtbögen und die Lautsprecher der Kirche alles, um Weihnachtsstimmung zu erzeugen.

Die Kuhweiden sind noch nass vom Regen der letzten Nacht. Hinter San Francisco verwandelt sich die asphaltierte Straße in eine grobe steinige Piste und das für die nächsten 70 km. Ab hier zieht sich die Straße als enge Schneise durch dichtes Grün, die einzige Verbindung über die Berge hier. Und so quäle ich mich nicht als einziger hinauf, auch Mopeds und Kleintransporter kämpfen sich nach oben auf dem 'Trampolín de la muerte', der “Todesstrecke”. An manchen Stellen ist die Straße abgesackt und die Leitplanke hängt frei in der Luft. Teilweise ist die Straße so eng, dass für nur ein Auto Platz ist. Dann geht es von 2300m auf 600m runter, bei der Piste allerdings nicht in freier Fahrt, sondern im Dauerbremsen. Die Straße ist so übel, dass ich bergab selten schneller als 10 km/h fahren kann und auch die Hände fangen vom permanenten Bremsen zu krampfen an. Außerdem zieht sich das Wetter zu und ich radeln irgendwann im dichtesten Nebel.

Dennoch hat sich mit meiner Fahrt nach Mocoa hinunter einiges verändert. Hitze und Feuchtigkeit liegen in der Luft, die Landschaft ist von dichtem Regenwald geprägt. Hier stößt das riesige Amazonasbecken an die Berge, das sich von hier aus bis zur Amazonasmündung im Osten Brasiliens erstreckt. Ich kann nur erahnen, was es in den nahen Wäldern für eine Artenvielfalt geben muss, wenn hier an der Straße schon so knallig bunte Vögel unterwegs sind. Ein merkwürdiges Geräusch lässt mich anhalten- wie ein dicker Wassertropfen, der auf einen unterirdischen See platscht. Und dieses mal bin ich mir sicher, dass es tatsächlich von diesen gelb schwarzen Vögeln dort oben kommt. So abgefahren wie das Geräusch der Krähenstirnvögel klingt, sehen auch ihre Nester aus, die wie Beutel von den Ästen hochoben herabhängen.

Ab jetzt ist es heiß, grün, grün und nochmals grün, sommerlich und bunt. In das Grün mischen sich knallige Blüten, Straßenstände leuchten im Orange der Papayas und Mandarinen. Häuser sind in knalligen Farben gestrichen: Pink und Rot, Grün und Blau. Und auf der Straße sind die Chivas unterwegs, die kunterbunten, kolumbianischen Busse, zur Seite hin offen, auf dem Dach Berge von Gepäck gespannt. Ein älterer Herr bringt sich auf dem Platz in Stellung mit einer großen Maschine, überdacht von einem bunten Sonnenschirm. Dann schmeißt er den Motor an und bringt seine Eismaschine in Schwung.

In Kolumbien nehmen die Autofahrer endlich wieder Rücksicht. Radfahrer gehören hier dazu und es gibt sogar anfeuerndes Gehupe und nach oben gestreckte Daumen. Immer wieder brause ich an dicken Schlaglöchern vorbei, die ich bergab bloß nicht übersehen sollte. Zum Glück gibt es da die Straßenflicker aus der Gegend, nicht in Straßenarbeiter-Kleidung, sondern privat mit der Schippe unterwegs, um die Löcher zu füllen. Die Autofahrer danken es ihnen mit ein paar kolumbianischen Pesos. Einer der Straßenflicker sitzt gerade am Straßenrand, das Loch ist bereits gefüllt. Ich rolle geräuschlos auf ihn zu. Als er das Brummen eines Auto hört, steht er auf und schnappt sich seine Schippe, um sich in Arbeitsposition zu begeben. Er beginnt ein wenig mit der Schaufel umherzuwackeln, steckt die Münze ein, die ihm der Autofahrer dankend reicht, um sich anschließend wieder in den Straßengraben zu setzen.

Für mich heißt es jetzt, noch einmal über den Gebirgszug. Dann komme ich nach Popayán, dort treffe ich Hanna wieder.

Ich erlebe jetzt noch einmal die Landschaft im Schnelldurchlauf. Obwohl sich meine Knie langsam zu erholen scheinen, ist es bis Popayán einfach zu bergig und so setze ich mich in der Grenzstadt Ipiales in den stickigen Bus. Die Landschaft schießt an mir vorbei, nicht in ihrer vollen Weite, sondern eingequetscht in das Busfenster. Das Bild ist unvollständig. Ih spüre weder Fahrtwind noch Wetter und meine Umgebugsgeräusche sind andere. Mal wieder ist der Fernseher laut aufgedreht und ich bin die einzige, die ihre Vorhänge offen hat und sehne mich endlich aufs Rad zurück.

Wir treffen uns in Popayán wieder und ab jetzt können wir Kolumbien gemeinsam erkunden. Das Licht ist gleißend hell in der Mittagssonne und wir müssen die Augen ein wenig zukneifen, während wir durch die weiß gestrichenen Altstadtstraßen laufen. Früher wurde die Stadt gekalkt, um die Sandflöhe loszuwerden. Seitdem bekommen die Häuser jährlich zur Karwoche einen frischen Anstrich. Die Häuser sind nahtlos aneinandergereiht und lediglich ein oder zwei Stockwerke hoch. Dächer haben das bunte dreckige Gelb-Rot angelaufener Ziegel und reichen oft bis über den schmalen Bürgersteig. Die alten Straßenlaternen stehen nicht einzeln herum, sondern hängen direkt an den Häusern. Für Bäume ist kein Platz in den engen Einbahnstraßen. Die Stadt ist ein wunderbarer Mischmasch lebendiger, alter Bausubstanz. Und die erstrahlt in ihrer Unperfektheit: Vor dem weißen Putz ziehen sich dunkle Kabel an den Hauswänden entlang. Immer wieder mischt sich eine Kirche zwischen die Wohnhäuser. Die Innenstadt ist belebt: kleine Panaderías, Modeläden, viele Beautysalons. Der kleine tienda bewirbt Milchreis, der Friseur furchtbare Herrenhaarschnitte mit einrasierten Mustern. Am Straßenstand sind zwei alte Handys mittels Kette befestigt. Überall gibt es diese “öffentlichen Telefone", mit denen man für 100 Pesos pro Minute telefonieren kann. Und das wird auch genutzt. Knapp 300.000 Einwohner wuseln täglich durch die Straßen Popayáns. Durch die Verkaufswägelchen sind viele Straßen noch enger. In den Stadtverkehr mischen sich Pferdekutschen. Die Hufe der Pferde klappern über den Asphalt. Auf den einspannigen Planenwagen werden Baumaterialien, Früchte und Menschen transportiert. Täglich tanzen Teufel durch die Stadt, ziehen gemeinsam mit kleinen Trommlergruppen durch die Gassen. Die diáblos sammeln die Münzen ein, die Leute aus dem Fenster werfen und aus den Autos reichen. Bürgersteige sind wieder zu schmal. Auf ihnen wackeln uns ausladende Dekolletés entgegen. Die schattige Bürgersteigseite ist eindeutig die beliebtere. Kaum jemand setzt sich der Sonne aus. Es ist dritter Advent und die Menschen spazieren mit Sonnenschirmen umher. Da kommt der Wagen mit der hölzernen Zuckerrohrpresse genau zur richtigen Zeit um die Ecke gebogen- bestes Wetter für eiskalte Zuckerrohrlimonade mit frischer Limette- ricissimo!

Der Parque Caldas, der grüne Platz im Herzen der Altstadt, ist jetzt im Dezember überladen von Kitsch. Jeder Ort in Kolumbien ist zur Vorweihnachtszeit in leuchtenden Lichtern verschwunden. „Qué lindo“- bestaunen Menschen die Weihnachtskrippen, die mit ihren aufwendingen Installationen an Modelleisenbahnlandschaften erinnern: Um das Jesuskind ein plätschernder Fluss, ein Schäferhund und ein Angler, der in ewiger Wiederholung seine Angelroute auswirft. Und die Kirchen übertrumpfen sich gegenseitig: Maria und Jesus erstrahlen in den wechselnden Farben der Lichterketten. Um die Plaza tummeln sich Menschen, Verkaufsstände und Musiker. Rund um die Uhr ist es voll hier. Wir sind nun ständig von Musik umgeben, jetzt von Trommelrhytmen, Waschbrettgerassel und Flötenspiel.

Jeden Tag besuchen wir das immer volle, von Geklapper durchflutete, vegetarische Restaurant. Hier lernen wir Jorge kennen, Regionalpolitiker und Kommunist, wobei er uns Letzteres nur flüsternd erzählt. Offen aber leise spricht er die Probleme an, mit denen Popayán und besonders die Provinz Cauca zu kämpfen haben. Er erzählt von Kokaplantagen in den Bergen, die Verwicklung so vieler Männer der Gegend in die Kokainproduktion und von Gewalt. Kolumbien ist der Kokainproduzent weltweit. Seit Jahren steigt die Produktion von Kokain sogar weiter an. Für Kokabauern bringt der Anbau von Koka viel mehr ein, als die Felder mit Nahrung zu bestellen. Außerdem ist es in den von Paramilitär oder Guerilla kontrollierten Gebieten gefährlich, was anderes anzubauen. Bauern, die in den abgeschiedenen Heimatdörfern einfach nur ihr Leben führen wollen: unmöglich, sobald eine der gewaltsam agierenden Verbrecherbanden das Gebiet für ihres erklärt hat. "Kokayan" nennt man die Stadt hier auch. Auf den Straßen sehen wir erschreckend viele Drogenopfer.

Es ist Heilig Abend. Wer die Abendmesse verlässt, betritt auch heute wieder einen wuseligen Platz. Die Plaza ist proppe voll, unter den bunten Lichtern sitzen die Menschen auf Bänken und hören dem Musiker zu. In den Straßen fehlt von Besinnlichkeit jede Spur, ganz im Gegenteil, die Stadt ist noch voll im Shoppingrausch. Werbemikros auf laut gestellt, an den Straßenständen wird heute Geschenkpapier verkauft. Wer bereits zu Hause ist, setzt sich jetzt nicht nach drinnen. Bei der Temperatur gibt es keinen Grund, sich ins Wohnzimmer zu verkrümeln. Stühle landen auf dem Bürgersteig. Boxen werden rausgestellt. Jetzt wird gesoffen und getanzt auf der Straße. Feuerwerksraketen schießen hinein in die stille, heilige Nacht!

Das beste Weihnachtsgeschenk für mich ist heute, am ersten Weihnachtsfeiertag, endlich wieder auf dem Sattel zu sitzen. Es geht wieder gemeinsam weiter. Denn hinter Popayan zieht sich die Straße zwischen den Kordilleren entlang und ist nur noch hügelig. Wir radeln die Landstraße in Richtung Norden, durch die Provinz Cauca. Hautfarben verändern sich ins Dunkelbraun. Wir landen im kleinen Frühstückstand von Eneida, Maria Ludis und Rosenberg. Hugo, der Nachbar, trinkt hier jeden Morgen seinen tinto. Außerdem seien die Arepas, die gebratenen Maisfladen von Eneida einfach die Besten, las más deliciosas. Und das Dorf hier, warum wohnt hier ausschließlich afrokolumbianische Bevölkerung? "Palenque" beantwortet Hugo die Frage knapp. Während der Kolonialzeit wurden mehrere hunderttausende Sklaven nach Kolumbienverschifft, die in den Häusern der Oberschicht, auf den Feldern und in den Minen arbeiten mussten. Immer wieder gelang einzelnen Sklaven die Flucht hinein in schwer zugängliche Gebiete. Sie gründeten weitabgelegene Dörfer, die meisten davon in der Karibikküstenregion.Immer noch gibt es viele afrokolumbianische Siedlungen, Menschen, die in den Dörfern der Vorfahren geblieben sind. Dieses Dorf hier ist an einer Hauptstraße gelegen und mittlerweile einfach zu erreichen. Aber weiterhin wohnen in Kolumbien in weit abgelegen Landesteilen afrokolumbianische und natürlich indigene Minderheiten. Das wird den Menschen immer wieder zum Verhängnis, denn eben jene Gebiete werden seit dem kolumbianischen Bürgerkrieg immer wieder von Guerilla oderparamilitärischen Gruppen zu ihrem Eigentum erklärt. In den Bergen können bewaffnete Gruppierungen ihren kriminellen Machenschaften nachgehen. Bereits urbar gemachte Gebiete werden gewaltsam übernommen, meist für die Drogenproduktion. In den Bergen werden illegal Bodenschätze wie Kohle und Gold abgebaut. Dorfbewohner, v.a. junge Männer, werden von den bewaffneten Gruppen rekrutiert. Und werden Interessen im Weg steht, der wird vertrieben und wer nicht flieht, der wird ermordet. Etwa ein fünftel der gesamten kolumbianischen Bevölkerung musste ihre Häuser verlassen und zum Schutz vor den bewaffneten Gruppen entweder immer tiefer in die Berge und Wälder oder in die Städte ziehen. Und somit ist Kolumbien mit 7,7 Millionen Binnenflüchtlingen derzeit der Staat mit den weltweit meisten, gewaltsam vertriebenen Menschen im eigenen Land.

Wir radeln an Soldaten vorbei, die jetzt in dichteren Abständen an der Straße postiert sind. Wie Marionetten stehen sie am Straßenrand und salutieren jedem vorbeifahrenden Auto und Fahrrad. Zu unserer Rechten zieht sich eine der Kordillieren entlang. Die Landschaft ist jetzt bedeutend flacher. Zu unserer Linken öffnet sich die breite Ebene des “Valle de Cauca”. Und es ist heiß. Menschen kühlen sich ab, sitzen bis zum Bauch im Fluss und picknicken daneben. Wir radeln östlich die heiße Ebene entlang, weit und breit nur leuchtend grüne Caña-Felder, Zuckerrohr. Wir trinken Guarapo frío, den kalten Zuckerrohrsaft mit Limette. Viele Bauern sind jetzt mit der Machete unterwegs, die kleinen Felder werden per Hand abgeerntet. Ein Motorradfahrer fährt langsam vor uns und beobachtet uns eine Weile durch seinen Rückspiegel. Der Mann dreht um, holt wieder auf und fährt mit uns auf gleicher Höhe. Wo wir lang wollen?, fragt er uns. Welche Straßen wir nehmen wollen? Hendry will nichts böses. Er sorgt sich lediglich um uns. “Bleibt auf der Hauptstraße. Da ist es sicher. Aber fahrt nur nicht in die Berge hinein”, sagt er sehr ernst, “das ist viel zu gefährlich dort.” Dann fährt er weiter. Auch am Nachmittag werden wir erneut gewarnt: “Fahrt bloß nicht in die Berge, bleibt auf der Hauptstraße.” Auch die Militärpräsenz verdichtet sich. Immer wieder sitzen schwer bewaffnete Soldaten im Schatten der Bäume und Büsche am Straßenrand. Wir passieren Militärkontrollen.

Die Nachmittagssonne ist jetzt hinter den Wolken. Die Hitze hat ein wenig nachgelassen, aber der Radeltag bei Sonne und 30 Grad wirkt nach. An der plaza in La Florida ist es voll. Die Obst-, Saft- und Eisstände sind gut besucht. Eisbecher bekommt man mit Sahne und Reibekäse serviert. Und während wir jetzt Eis mit Käse probieren, werden wir auf Englisch angesprochen. Juan Mateo, John und ihre Cousins wundern sich, was wir hier in La Florida zu suchen haben.  Hier verirren sich doch eigentlich keine Touristen hin. Und eine Stunde später sind wir schon nach Hause eingeladen, Kaffee wird gekocht und zehn Plastikstühle landen auf dem Gehweg. Nachbarn kommen und gehen. Stühle werden besetzt und verlassen. Die Runde verändert sich stetig. Man sitzt nicht drinnen abends, sondern auf der Straße. Die Musik schallt aus dem offenen Haus. Fast jeden Abend kommen sie hier zusammen, und irgendwann ist die ganze Familie eingetrudelt. Jeder guckt kurz irritiert, das sich heute Touristen in die Runde verirrt haben. Dann wird der Aguardientes geöffnet, ein Schnaps aus Zuckerrohr und Anis.

"Kolumbien ist das Schönste und das Schlimmste gleichzeitig", findet Juan Mateo, der zwar sein Leben lang in den Staaten gelebt hat, aber jedes Jahr zwei Monate hier verbringt, bei seiner Familie. Diese entspannte Art, diese Freundlichkeit, die Freude am Ausgehen und Tanzen... das sei ganz besonders hier. Aber da ist eben auch diese andere Seite. Wir befinden uns in einer gefährlichen Gegend. Erst vor zwei Wochen explodierte hier am Platz eine Motorradbombe. Und in die Berge geht man nicht, wenn man sich nicht auskennt. Entführungen gegen Lösegelder seien lukrative Geschäfte hier. Und jeder in unserer Runde hat Freunde oder Verwandte, die ermordet wurden. Es sei zwar besser als früher, aber man ist vorsichtig. Man checkt die Menschen ab. Ist abends nicht allein, sondern in Gruppen unterwegs. Man läuft nicht nachts, sondern nimmt ein Mototaxi. Und nachts beginnt hier mit dem Sonnenuntergang ab 18 Uhr. Was die Militärs auf der Landstraße gemacht haben? Die sind hier wegen des Kokainschmuggels. Die Berge hier werden von bewaffneten Gruppen kontrolliert.

 

In Kolumbien herrscht seit über Hundert Jahren ein extrem gewaltsamer Konflikt um Land, Geld, Macht und soziale Gerechtigkeit. Er ist brutal, extrem militarisiert und gekennzeichnet von schlimmsten Verbrechen an der Zivilbevölkerung: Zwangsrekrutierungen, Vertreibungen, Vergewaltigungen, Morde und Massaker.

Zu Beginn des 20 Jhds. fielen im Krieg der Tausend Tage durch die gewaltsame Aneignung von Kleinbauernland durch Großgrundbesitzer im Zuge des Kaffeebooms etwa 100.000 Tote. Mit dem Aufkommen der großen Industrien in den 1920er Jahren wuchsen Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit. Gewerkschaften und Oppositionsbewegungen begannen, ihre Stimmen für Arbeiterrechte und Demokratie zu erheben, wurden jedoch immer wieder brutal niedergeschlagen. Symbolträchtig dafür ist der Streik auf den Bananenplantagen der United Fruit Company (heute Chiquita) von 1928, der mit der Ermordung mehrerer Hundert Streikender und ihrer Familien endete. Soziale Bewegungen wurden seit jeher konsequent unterdrückt. Immer wieder ging es den Eliten um die Vernichtung von sozialen Bewegungen und Opposition, um ihren Reichtum und ihre Macht zu sichern. Einige wenige Familien in Kolumbien besaßen 97% der Ländereien und Rohstoffe des Landes, darunter Bergwerke, Erdölquellen, Bananen- und Kaffeeplantagen. Und als es mit Jorge Gaitán zwanzig Jahre nach dem Massaker in Kolumbien einen erfolgsversprechenden Präsidentschaftskandidaten gab, der glaubhaft soziale Veränderungen versprach, wurde dieser im April 1948 erschossen. Und so haben politische Morde und soziale “Säuberungen" traurige Tradition in Kolumbien. Der Ermordung von Gaitán löste schwere Unruhen zuerst in der Hauptstadt Bogotá aus, die sich bald auch auf das Land ausbreiteten. Während der kommenden zehn Jahre, der Zeit der brutalen Violencia, starben zwischen 180.000 und 300.000 Kolumbianer. In ganz Kolumbien wurden Gewerkschafter umgebracht, Dörfer mit liberaler oder kommunistischer Gesinnung wurden überfallen und ermordet. Selbstverteidigungsgruppen gründeten sich. Und so bildeten sich in den sechziger Jahren aus den unterdrückten Gewerkschaften und Bauernverbänden in Kolumbien verschiedene Wiederstands- und Guerillagruppen.

Mehrere Akteure bestimmen den Konflikt seitdem. Die verschiedenen Guerillagruppen wie die FARC oder die ELN haben das Ziel, den Staat mittels Gewalt zu tiefgreifenden Reformen zu zwingen. Darunter sind Reformen der Landverteilung, sozialpolitische und demokratische Veränderungen sowie wirtschaftliche Reformen zum Schutz vor Ausbeutung, auch durch internationale Großkonzerne. Politischen Druck üben sie unter anderem durch Anschläge auf Konzerne und deren Infrastruktur oder auf Polizei und Militär aus. Aber auch immer wieder sind Zivilisten Opfer der Gewalt. Einhergehend mit dem Aufbau der Guerillagruppen entstanden paramilitärische Gruppen: kleine Privatarmeen, von Großgrundbesitzern, Industriellen und auch von internationalen Konzernen angeheuert. Mit Waffen und militärischer Ausbildung wurde ihr Kampf gegen die linken Gruppen auch international unterstützt, in besonderem Maße durch die Vereinigten Staaten. Angeblich zur Selbstverteidigung gegründet, vertreten die paramilitärischen Gruppen die Interessen von Wirtschaftseliten, hochrangigen Militärs und Politikern. Sie bekämpfen nicht nur die Guerilla, sondern sind verantwortlich für besonders schwere Verbrechen an der Zivilbevölkerung. Sie haben Vertreibungen, Zwangsrekrutierungen, Morde und Massaker zu verantworten und sind berüchtigt für besonders perfide Gewaltanwendungen. Die paramilitärischen Gruppen beziehen ihre Einnahmen größtenteils durch den Kokainhandel. Aber auch die Guerillagruppen finanzieren sich vom Geschäft mit den Drogen. In den Achtziger und Neunziger Jahren wurde dies in der Hochphase der Gebietskämpfe verschiedener Drogenkartelle sichtbar. Sowohl paramilitärische Gruppen als auch Guerilla kämpften um Einfluss, Märkte und Land im Drogenhandel.

 

Die Aguardiente-Flasche ist alle. Der Abend ist schon spät und wir von sechs jungen Männern zurück zu unserer Unterkunft gebracht.

Wir radeln weiter. In den Orten sind jetzt die Pappenheimer unterwegs: Männer, die sich was dazuverdienen, in dem sie parkende Motorräder mit Pappen bedecken und die Sonne daran hindern, die schwarzen Ledersitze aufzuheitzen.

Als wir aus dem Bäcker kommen, sind auch unsere Fahrradlenker mittels Pappe vor der Sonne geschützt. Zurück auf der Hauptstraße brausen die langen Roadtrucks an uns vorbei, LKWs mit bis zu fünf Anhängern voller Zuckerrohr, die die große Hauptstraße durchs Valle de Cauca krachen. Das erste Mal seit Monaten ist es flach und wir staunen, wie leicht doch Radfahren sein kann! Kein Wunder, dass wir hier nicht mehr die einzigen Radler auf der Straße sind. In Kolumbien ist das Rad beliebt. Bis zum Nachmittag zählen wir grob mit, zwischen 80 und 100 Rennradfahrer begegnen uns über den Tag verteilt, viele davon sind ältere Herren.

Bei einem der kolumbianischen Fahrradfreaks schlafen wir heute, bei Jonathan in Buga. Der ist echter bici-Fan, ist selbst drei Jahre mit dem Fahrrad durch Südamerika gereist und nimmt jetzt cicloviajeros bei sich auf. Das Haus von Jonathan und Dora hat keine Fenster, nur Moskitonetze, denn hier ist es ganzjährig warm. Im Garten liegen Mangos und Sternfrüchte auf dem Boden und es wachsen die wohl saftigsten Orangen der Welt. Ewig saugen wir an den Früchten und fragen uns, wie der ganze Saft in diese eine Orange passen konnte. Im Baum vor dem Haus hängt die kleine Zuckerwasserstation für die Kolibris, die es hier in vielen Gärten gibt. Unter der Treppe wohnt eine dicke Schildkröte. Und nachts dringen die Geräusche so laut an unsere Ohren, als würden wir mitten im Dschungel schlafen.