Colombia - Hermosa naturaleza y politicos mafiosos


Hörend mitradeln:


Das Küchenradio mischt sich heute morgen mit in das Grillenzirpen. Unser Warmshowers-Gastgeber Jonathan stellt uns eine mülleimergroße Kanne Mangoshake auf den Frühstückstisch. Der beste Beginn eines Radeltages.
Wir sind ziemlich froh, dass wir am Ende unserer Südamerikareise in Kolumbien sind, jetzt, da wir uns einigermaßen auf Spanisch verständigen können. Denn in Kolumbien treffen wir nicht nur auf viel mehr Menschen als in den oft einsamen Bergen, die Leute sind jetzt auch kontaktfreudiger als in den Höhen der Anden und sie freuen sich über Radreisende. Täglich werden wir willkommen geheißen, überall angesprochen.  Mal wird über korrupte Politiker geklagt, mal will man einfach nur wissen, wie uns Kolumbien gefällt.
Es geht wieder bergauf, aber diesmal in die sichere Hügellandschaft der eje cafetero. Das große, immergrüne Kaffeeanbaugebiet im Zentrum Kolumbiens breitet sich über mehrere departamentos aus. Wir klettern den Anstieg zur Kleinstadt Sevilla hinauf, hinter und unter uns die riesige Ebene des Cauca-Tals. Sevilla ist ein kleines Städtchen. Die riesige Kirche ist zur Abendmesse voll besucht. Fahrräder werden mit in das Gotteshaus geschoben. Die Plaza ist proppevoll und auf den kleinen Mauern rund um die Blumenbeete gibt es in den frühen Abendstunden kaum einen freien Platz. Rund um die Plaza tummeln sich Kaffeestände.
Hinter Sevilla gehören die Hänge den abertausenden Kaffeepflanzen. Wir sind jetzt mitten in der zona del café. Die Straße schlängelt sich durch grüne Berge, um uns herum die vielen Kaffeeplantagen, dazwischen dicke Bananenstauden, riesiger Bambus, unterschiedlichste Palmenarten und Orangenbäume. Auf der Straße sind die kultigen Willys-Jeeps unterwegs. Rustikal und elegant zugleich transportieren sie hier alles und jeden, sind beladen mit  Bananenstauden und  Kaffeesäcken.  Radfahrer balancieren zwischen Kinn und Oberrohr große, schwere Orangensäcke und rasen damit gefährlich schlingernd die Hügel hinab. Der Alltag hier könnte auch Filmkulisse sein: in den Straßen vermischen sich Moderne und Tradition. Mopeds und Jeeps knattern durch Hügel oder Orte genauso wie klappernde Pferdekutschen. Alte Männer erfüllen mit ihren steifen, hellen Hüten und ihren Gehstöcken das Klischee des Patriarchen. Überhaupt sind jetzt tagsüber auffällig viele ältere Herren auf den plazas vertreten. Manche lassen sich ihre Schuhe polieren, während sie Kaffee schlürfen. 

Das departamento Quindio ist eine kleine Provinz und besteht nahezu vollständig aus Kaffeehügeln. Heute fahren wir die Hügel hinauf, eine einsame Straße durch Kaffeehänge zur Kaffeefinca Buenos Aires. Die Landschaft ist umwerfend schön und in den Bergen verfangen sich Wolken. "Zwei große Kaffeesorten werden weltweit angebaut: Robusta und Arábica.", beginnt Maria zu erzählen, die uns jetzt durch die Kaffeefarm führt. Sie zeigt auf die noch grünen Früchte, die man Kirschen nennt. Nur wenige Rote mischen sich darunter. Innen drin ist der Kern, der Samen, die Kaffeebohne, drum herum gibt es diese kleine glibschige Fruchtfleisch-Schicht. "Das ist Arábica". Sie zeigt auf die Hügel voller Hochlandkaffee. Das Anbaugebiet hier ist perfekt und so können die Kaffeebauern hier sogar zwei Mal im Jahr ernten. Einen Hügel bewirtschaftet Senor Luis hier, mehr braucht es nicht für eine Kaffeefinca. Die Anbauflächen sind steil und die Büsche stehen dicht, damit sie sich gegenseitig Schatten spenden können. Die Erntearbeit hier ist hart: Zerkratzte Arme, Unfälle, Insekten- und Schlangenbisse gehören zu den Gefahren. Geübte Pflücker schaffen bis zu 50 Kilo am Tag. Die Wanderarbeiter kommen und verdingen sich hier mit der harten Arbeit oft gerade soviel, wie sie täglich brauchen. Neuerdings sind es v.a. Venezolaner, denn die "arbeiten für weniger Geld", heißt es hier immer. Nur die roten Kirschen werden gepflückt. Wenn die Bohnen die Finca verlassen, sind sie noch beige-grün und sie riechen kein Bisschen nach Kaffee. Die Kaffeearomen entstehen erst durch das Rösten. Die perfekten Bohnen sind für den Export bestimmt, mal wieder für unsere Supermarktregale. In Kolumbien bleibt hauptsächlich der Rest, dieser schwarz-beige Haufen. Das sind die Früchte mit Bruch und Insektenbefall. Die werden dann einfach so stark geröstet, dass der schlechte Geschmack übertüncht wird.

Die Gegend hier ist noch für etwas anderes außer Kaffee bekannt. Und so wandern wir jetzt durch das Valle de Cocora mit seinen berühmten Wachspalmen. Wieder sind wir in einziges Grün getaucht. Die beeindruckend langen, dünnen Palmen stehen imposant auf den sattgrünen Hügeln und wirken, wie in die Landschaft gepiekste Zahnstocher. Die Quindio- Wachspalmen ragen bis zu 60 m kerzengerade nach oben, ihr Stamm jedoch ist höchstens 40 cm dick. Der Weg führt in den Wald, an einer Kolibristation vorbei. Hier brummen die kleinen bunten Flugkünstler von Blüte zu Blüte. Besonders gerne naschen sie jedoch vom Zuckerwasser.

Wir radeln nach Chinchiná. Die Fahrradkultur in Kolumbien ist wirklich besonders. Hernando antwortet uns auf unsere Warmshowers-Anfrage: Er ist gerade nichteine Adresse, den Schlüssel sollen wir uns bei dem kleinen Laden nebenan abholen, Bienvenidos! Also suchen wir zwei Stunden später in Chinchiná die Tür mit der 13-4. Calle 13, denn in Kolumbien sind Straßen einfach durchnummeriert. Das macht es leicht, die richtige Straße zu finden. Hausnummer 4. Wir schließen auf und befinden uns in der wohl kleinsten Casa de ciclistas! Dass Hernando selbst mal mit dem Rad unterwegs gewesen sein muss, sieht man sofort, denn es gibt alles, was Radreisende brauchen. An der Wand drei Fahrradhalterungen, für mehr Menschen ist hier auch kein Platz. Ein kleiner Raum, in den gerade so die Matten hineinpassen. Minibad, kleine Küchenzeile, Wäscheleinen über der Toilette. Eine perfekte Radlerbude auf wenigen Quadratmetern. Dazu die üblichen Casa-Spielerein. Das Regal, in das Reisende aussortierte Dinge legen wie Ersatzteile oder Medikamente. Die kleinen Basteleien, die die Artesanos unter den Ciclistas als Dank zurücklassen. Und die Radfahrerwand- ein Mix aus Dankbarkeit und Angeberei: selbstgezeichnete Kunstwerke, Dankeskarten und Werbung für den eigenen Blog.

Der Río Cauca sieht eher aus wie der Río Kakao. Braunes Wasser rauscht mit uns in Richtung Norden und je tiefer wir kommen, desto wärmer wird es. Die Landschaft wird Kilometer für Kilometer trockener. Während wir rollen, schauen wir zu, wie die Anden nun kleine Höhenzüge werden. Hinter La Pintada ist der Kaffee verschwunden, Rinder stehen auf immer trockener werdenden Weiden oder lassen sich von llaneros, den kolumbianischen Cowboys, die Straßen entlangtreiben, die peitschenknallend hinter ihnen reiten. Auf Hängen stehen Orangen- oder Mangobäume. Kakteen mischen sich ins gelbe Gras, ebenso die Kalebassenbäume mit ihren großen, hölzernen Kugelfrüchten. Die Straße zieht sich durch eine Schlucht aus Lehmwänden, Lebensort vieler kleiner Papageien, die sich jetzt lautstark beschweren, wenn Autos an ihnen vorbeirauschen. Bei knapp 40 Grad radeln wir von einer O-Saft-Bude zur nächsten. Im kleinen Eisladen hat es sich eine Katze auf der kühlenden Glasscheibe der Eistruhe bequem gemacht. Straßenarbeiter ergeben sich ab 11 Uhr der Hitze und dösen in den schattigen Straßengräben bis weit in den Nachmittag hinein. Auf Straßenschildern versuchen wir, die Silhouetten der Tiere zu erkennen: neben den Unbekannten sehen wir Gürteltiere und Leguane. Dass Menschen auf dem schmalen Streifen zwischen Straße und Fluss tatsächlich ihre Häuser eingebaut haben, erstaunt uns immer wieder. Manche Hütten haben nur einen halben Meter Platz zwischen Haustür und Straßenbelag. Weihnachtsdeko wird wieder abgenommen, bauchfrei und in Badehose. In Kolumbien findet das Leben draußen statt, nicht selten ist die Straße das Wohnzimmer der Leute, zumindest auf dem Land. Auch im kleinen Örtchen Anza scheinen die Menschen mit dem Dorfplatz verwachsen zu sein, der ungeachtet der Tageszeit immer voll ist. Auch heute Nacht ist die Musik auf der Straße mal wieder vollaufgedreht.

Wir versuchen, uns so viel wie möglich von den leckeren Obstshakes zu ernähren. Den Rest kann man hier vollkommen vergessen. Die kolumbianische Küche hängt uns zum Halse raus. Jedes Essen besteht lediglich aus zwei Farben: Weiß und Gelb. Frisches hat auf denTellern nichts verloren. Reis mit Maisfladen, frittierte Empanadas, dazu vielleicht Pommes oder in Öl versunkenes Ei. Kohlenhydrate mit Kohlenhydraten und Fett steht hier auf dem Speiseplan. Gewürzt ist davon nichts. Und auch in den Bäckereien beschränkt sich die Auswahl auf Fettgebäck in unterschiedlichen Formen und Größen.

Wir radeln nach Santa Fé de Antioquía. Der Ort war bis zum Ende der Kolonialzeit die Hauptstadt des departamentos Antioquía. Und bis auf die Autos, die jetzt in den kopfsteingepflasterten Straßen unterwegs sind, sieht die Stadt immer noch aus wie aus einer anderen Zeit. Holztüren und Fenster der wunderschönen Kolonialstadt sind farbig gestrichen. Wir luken in große Innenhöfe und durch offene Türen. Und schon damals hatten die Reichen Gitter vor ihren Fenstern, wenn auch aus hübsch gedrechselten Holzstäben. Die wenigen Menschen, die tagsüber durch die Gassen streifen, meiden auch jetzt die Sonnenseite und suchen den schattigen Schutz der Häuserzeilen. Erst wenn die Sonne verschwunden ist, wird es voll auf den Plätzen der Stadt.

Heute liegt die Hauptstadt Antioquias 60km südöstlich von Santa Fé und 1000 m höher gelegen, umgeben von Bergen. Zweieinhalb Millionen Menschen leben in der altstadtlosen Metropole Medellín. Laue Sommernächte gibt es das ganze Jahr über. In ganz Kolumbien schwärmten uns die Menschen von Medellín vor: das tolle Klima, die schönsten Frauen, die freundlichsten Menschen und nicht zu vergessen: Medellín hat eine Metro! Jetzt sitzen wir hier im kleinen Parque La Floresta am Springbrunnen, schauen Menschen beim Taubenfüttern zu, genießen das angenehme Wetter und beobachten die fahrenden Obstverkäufer, eine Hand am Lenkrad ihres Karren, die andere am Mikrofon. In der Nähe des Spielplatzes bauen andere ihre Kindervergnügungstände auf, kleine Staffeleien und Höckerchen.

Wir warten auf Logan und Liz, die jetzt von der Arbeit kommen. Und während wir zu ihrer nahegelegenen Wohnung spazieren, räumen die zwei erstmal mit den Klischees auf. Die Geschwister wohnen jetzt seit einem Jahr in der Stadt, sind aus der Kaffeezone zum Arbeiten hierhergezogen. Aber bis auf das tolle Wetter hier sei das doch alles nur dummes Gerede vom tollen Medellin. Die paisas, die Menschen hier sind doch einfach nur selbstverliebt und halten sich für etwas Besseres. Logan räumt sein Zimmer für uns und wir sind die kommende Woche eine Vierer-WG. Mit Liz und Logan erkunden wir Medellín. Vom Cerro Nutibara schauen wir hinunter auf die Stadt. Auch in Medellin gilt eine einfache Faustregel, erzählt uns Logan. Dort, wo es flach ist, befinden sich die überwiegend sicheren Stadtteile. Je weiter es die Hänge hinaufgeht, desto größer ist die Armut und desto höher sind die Kriminalitätsraten. Wir rollen auf bunten Radwegen durch die Straßen. Wir radeln nach Poblado, in den Stadtteil der Reichen und Traveller- eine einzige Ansammlung an hippen Bars, vertraute „Szene“, die es in jeder westlichen Metropole gibt. Backpacker kehren in ihre Hostels ein. Auf den DIY- Schildern steht etwas von vegan, pulled pork oder craft beer. Besserverdiener sitzen in Cafés. Street Art lässt die Gegend einzigartig und kreativ wirken. Das Pendant zu Poblado gibt es auf der anderen Seite der Stadt nocheinmal, im hippen Laureles. Die beiden Lieblingsviertel der Taxifahrer. 

Wir radeln durchs Zentrum, vorbei an den dicken Gordo- Skulpturen Fernando Bolteros. Besuchen den Friedhof San Pedro. Stehen vor den Fotos, die hier auf die Grabplatten gedruckt wurden und sind entsetzt. Die Hälfte der Toten hier ist nicht älter als 30 Jahre geworden. Die Gewalt in Kolumbien bekommt hier Gesichter. Durch die trubelig, räudigen Straßen des Zentrums schieben Händler ihre Wägelchen. Der Radweg gehört hier den Verkäufern. Wir fahren an Menschen vorbei, die in der prallen Mittagshitze quer über Fußwege liegen, mit dem Gesicht auf dem nackten Beton. Von Drogen außer gefecht gesetzt. Wer nicht gerade im Rausch ist, ist damit beschäftigt, sich die nächste Pfeife vorzubereiten. Das extrem abhängig machende Abfallprodukt aus der Kokainproduktion "basuco" wird den Leuten hier fast hinterhergeworfen, so billig ist es. Kolumbien produziert nicht nur Mengen an Drogen, eine ganze Menge Menschen haben hier auch extreme Drogenprobleme. Die werden nicht nur auf der Straße genommen, bringen aber viele genau dorthin. Die Zahl derer, die hier auf der Straße leben, muss unglaublichhoch sein. Auch vielen Geflüchteten, ganzen Familien aus Venezuela oder Kolumbien selbst, bleibt kein anderer Ortals die Straße. In die Mittagshitze mischt sich der Geruch von Fäkalien und Urin. Es ist krass, wie vielen Menschen es hier richtig dreckig geht. Weiterradeln. Vorbei an großen Shoppingmalls. Vorbei an den schönen Frauen Medellíns. Operierte Push-Popos wackeln durch die Straßen, aufgeblasene Ballonbrüste in tiefe ausgeschnitten Dekolletés springen uns förmlich an. In Kolumbien legen sich viele unters Messer, ohne OP ist das Schönheitsideal auch schwer zu erreichen. Supermärkte haben in Kolumbien wieder den Wochenmärkten den Rang abgelaufen. Die unzähligen Verkaufskarren voller Avocados und Obst rollen dennoch durch die Viertel der Stadt. Sie alle werben in ihrer eigenen Melodie, die sie von morgens bis abends wiederholen. Täglich, immer dieselben Runden drehend.

San Javier ist die dreizehnte von insgesamt sechzehn comunas in Medellín. Die comuna 13 ist nicht das einzige Armenviertel der Stadt, erlangte jedoch traurige Berühmheit in den Achtziger und Neunziger Jahren. Die Comuna 13 stand für Gewalt, war Schauplatz von blutigen Bandenkriegen. Ein Ort,

wo man junge Menschen für wenige Dollar als Auftragskiller anheuern konnte, in einer Zeit, in der allein in Medellin jährlich bis zu 7000 Menschen ermordet wurden. Aber auch wenn es heute lange nicht mehr so viele Tote in der Stadt gibt und die Gewalt zurückgegangen ist, erzählen uns Liz und Logan, wie sie Schüsse aus dem benachbarten San Javier hörten, als sie beim Bäcker waren, der Ladenbesitzer ihnen jedoch lediglich einen schönen Tag wünschte und auch draußen auf der Straße niemand reagierte.

San Javier ist wohl Kolumbiens bekanntestes Viertel. Keinem anderen Stadtteil wird so viel mediale und touristische Aufmerksamkeit geschenkt. Die „Comuna 13“ heißt es heute, sei „Aushängeschild für Städtewandel“, dafür, wie sich eine Stadt durch intelligente Stadtplanung verändern kann. Einer der Orte, weshalb Medellín Titel wie „die innovativste Stadt der Welt“ zugeschrieben wurde. Früher Stadt der Drogenkartelle, vom blutigen Schauplatz der Bandenkriege, vom gefährlichsten Stadtteil der Welt zum Touristenmagnet.

Auch wir wollen uns den Stadtteil anschauen und steigen jetzt mit Liz und Logan in den Bus, der in die Comuna 13 hinauffährt. Ein junger Mann schaltet Musik ein. "An alle, die nicht von hier sind, willkommen in der Comuna 13. Mal ehrlich, in Wirklichkeit sind wir nicht so böse, wie man es in der Zeitung liest. Ich bin ein Rapper und kein Dieb und ich bin hier für gute Stimmung.",  begrüßt er die Leute. Dann erzählt er seine Geschichte. Er will kein Mitleid. Er rappt von harten Zeiten, rauen Erfahrungen. Von Narben, die er in sich trägt und aus denen er gelernt habe. Davon, dass er ein guter Mensch sei, obwohl er keinen feinen Anzug trägt. Darüber, dass wir doch eigentlich alle gleich seien, wenn auch einige Menschen auf der Siegerseite  geboren werden, während andere nicht mal etwas zu essen haben. Und jetzt versuche er, sich hier über Wasser zu halten. Und der Busfahrer, der ihn in seinem Bus rappen lässt, der sorge hier für mehr Jobs im Viertel, als die Politiker, die Ratten in den Anzügen.

 

Häuser ziehen sich den Hang hinauf, eng verschachtelt und aneinandergebaut. Dazwischen ein Labyrinth aus Wegen und Treppen. Der Bus stoppt. Die Straße ist blockiert. „Ich muss euch leider hier schon rausschmeißen Leute, ich komme hier nicht weiter, aber in nur zwei Straßen seid ihr da.“, sagt der Busfahrer.  Mit „da“ meint er die sichere, touristische Zone der Comuna 13. Und auf einmal sind wir auf dem breiten  Weg, der sich wie ein Steg den Abhang entlang zieht: eine bunte, gerade Linie im sonst so verschachtelten, ziegelroten Viertel, durch die Touristen strömen. Vorbei an bunten, imposanten Graffiti-Kunstwerken.  Kolumbianische und internationale Touristen posieren davor und dekorieren sich selbst damit. Kaltes Bier wird verkauft. Die selbstgeschriebenen Preisschilder sind auf spanisch und englisch. Überall gibt es Drinks und Mukke. Wir laufen den bunten Party-Weg entlang. Vorbei an Tänzern, an Künstlern, die hier auftreten. Bewohner, die hier mit dem Moped unterwegs sind, hupen sich durch die Menschenmassen. Die nahen Häuser und Dächer sind bunt bemalt. Und auf einmal endet der Weg. Alles bunte und laute ist verschwunden. Die roten Ziegelhäuser sind zurück. Aber hier wollen Liz und Logan mit uns nicht weiter gehen. Hier endet der sichere Bereich.

Präsident Uribe versprach mit seiner Wahl 2002 hartes Durchgreifen im Kampf gegen kriminelle Banden im ganzen Land. Er wollte nicht verhandeln, schon gar nicht mit der Guerilla. Und fand mit seiner Meinung großen Anklang in der kolumbianischen Bevölkerung. Hier, in der Comuna trece, sollten unter seiner Präsidentschaft die Machtverhältnisse wieder 'geradegerückt' werden. Am 16. Oktober 2002 begann die „operación orión“. Das Militär marschierte schwerbewaffnet in das Viertel ein, gemeinsam mit paramilitärischen Gruppen und ein mehrtägiger Krieg mitten hier im Wohngebiet begann. Kugeln schossen in Häuser. Zivilisten starben. 71 Menschen wurden von paramilitärischen Gruppen getötet. Menschen wurden gefoltert. 92 Menschen sind verschwunden. Außergerichtliche Hinrichtungen wurden durchgeführt, deren Opfer in einer nahgelegenen Baustelle landeten. Unter den Toten waren viele Zivilisten, zu Unrecht als Guerilleros beschuldigt, für „gute Resultate“ im Kampf gegen den Terror. Die „falsos positivos“, normale Menschen, als Guerilleros präsentiert, umgebracht für Prämien und Bonuszahlungen. Es ist bezeichnend, dass die Regierung in der Operación Orión mit paramilitärischen Gruppen zusammenarbeitete und auch, dass die paramilitärischen Gruppen über ein Jahr nach der Militäraktion immer noch die Comuna 13 kontrollierten. 

Immer wieder arbeiten Militär und staatliche Sicherheitskräfte zusammen mit paramilitärischen Gruppen. Die Strukturen sind undurchsichtig, die Zusammenarbeit wurde jedoch mehrfach nachgewiesen. Hochrangige  Paramilitärs, die von direkten Anweisungen aus der Regierung berichten oder die aussagen, dass es viele paramilitärische Aktionen gab, in die die Regierung sogar direkt verwickelt gewesen ist. Paramilitärs, die als verlängerter Arm von Regierungen dienen. Auch dem Militär und dem Staat werden schwere Menschenrechtsverletzungen angelastet im kolumbianischen Konflikt. Man muss sich an dieser Stelle noch einmal vor Augen führen: der Staat kooperierte, immer wieder mit/ bzw. Befehligte direkt paramilitärische Gruppen, die unter anderem mehr als 1600 Massaker begingen, über 174.000 Morde zu verantworten haben, über 3.500 Minderjährige rekrutierten, etwa 35.000 Menschen verschwinden haben lassen (bis 2010). Diese Zahlen sind heute noch höher und steigen weiterhin an. 

Ende 2005 verließen die Paramilitärs die comuna 13, im Zuge der offiziellen Demobilisierung. Allerdings kehrten sie wenige Tage später in zivil zurück und kontrollieren seitdem als Banden den Stadtteil. Ihr Geschäft ist der Drogenhandel und die Prostitution, sie treiben Schutzgelder ein und zwingen die örtlichen Verkäufer, Waren direkt von ihnen zu kaufen. Hier muss jeder zahlen. 

 

Wir drehen um zurück in die Touristenmeile. Liz und Logan sind sichtlich frustriert über die Zustände hier. Über die Selbstinszenierung der Stadt. Darüber, dass sich Politiker für Innovationen feiern lassen, nur weil tatsächlich mal ein Teil der Gelder in den Ausbau öffentlicher Infrastruktur geflossen ist und nicht in die eigene Tasche. Die Metro, die Gondelbahn, die Bibliotheken in der Stadt, auch die Rolltreppe in der Comuna 13, mit der wir jetzt die steilen Hänge hinabfahren. Natürlich seien das gute Projekte. Aber mithilfe dieser Projekte wird hier eben auch über die Realtität hinweggetäuscht. Die Medienkonzerne, die alle in Besitz der Wirtschafts- und Politikelite sind, geben ihr bestes, durch ausgewählte Berichterstattung an diesem Image mitzuarbeiten. Hinweggetäuscht wird darüber, dass hier kein Frieden ist, sondern dass hier weiterhin die Mafia regiert. Und dass Mafia und Politik hier hervorragend ineinander verflochten sind. 

 

Auch der international gefeierte sogenannte Friedensvertrag mit der FARC von 2016, hat nach dem Abzug der Guerillatruppen im ganzen Land dazu geführt, dass die Bevölkerung in den zurückgelassenen Gebieten nicht vom Staat geschützt wurde, sondern das vorhersehbare  Machtvakuum von anderen bewaffneten (meist paramilitärischen) Gruppen gefüllt wurde. Die Gewalt im Land wurde keineswegs beendet, den paramilitärischen Gruppen und ihren Auftraggebern vielmehr der Weg in weitere Gebiete geebnet. Und das Morden geht weiter. Menschenrechtsorganisationen beklagen ein gezieltes Ausschalten von Zivilisten, das seit einigen Jahren sogar immer stärker ansteigt. Allein diesen Januar (2020) wurde in Kolumbien mehr als ein Mensch täglich ermordet, aufgrund von Widerstand gegen die kriminellen Strukturen. Unter den Opfern sind Menschenrechtsverteidiger, Bauern, Umweltschützer, indigene und afrokolumbianische Bürger, Social Leaders, Landbesitzer, Justizangestellte, Journalisten... Und die Opfer haben in der Regel eines gemeinsam: sie stehen kommerziellen Interessen im Weg. 

Der Friedensvertrag hat vor allem einen Akteur der Opposition demobilisiert. Er hat weder Konfliktursachen bekämpft, noch soll er der Aufarbeitung der Verbechen dienlich sein und in irgendeiner Form den Opfern beistehen. Die Auflösung des Konfliktes scheint nahezu unmöglich. Politiker, hochrangige Militärs und einflussreiche Wirtschaftseliten, die die Geschicke des Landes bestimmen, haben kein Interesse an einem Ende des Konfliktes, haben sie doch selbst so viele Verbrechen zu verantworten und profitieren sie doch so sehr davon.

Wir lassen unsere Räder bei Logan und Liz und fahren mit dem Bus an die Karibik, zwei Wochen Strand und Hängematte, bevor es zurück nach Europa geht.

Als wir morgens im Dunkeln zum Bootsableger in Necoclí kommen, ist es voll und unübersichtlich. Jemand hat einen Hahn bei sich. Ein Mann steht mit einem Mikrofon inmitten von Menschen und ruft Namen, teilt Gruppen ein. Euer Ticketverkauf startet später, sagt uns der Straßenverkäufer aus Necoclí. Jetzt werden erstmal die migrantes eingeteilt. Um uns herum ganze Familien, offensichtlich auf der Flucht. Sie warten darauf, das die Reise endlich weitergeht, Kinder und Babys dabei. Viele kaufen sich noch ein Rucksack, eine Taschenlampe oder ein Zelt. Nun ist unser Boot dran. Wir Touristen werden einzeln mit Namen aufgerufen, die Flüchtlinge als Gruppe, eingeteilt von den Schleppern – 35 Menschen, alle haben ein Papierbändchen am Handgelenk. Dann gibt das Boot Gas: anderthalb Stunden krachen wir über die Wellen.  

 

Im Nordwesten Kolumbiens läuft der südamerikanische Kontinent zu einer schmalen Landmasse aus.  Hier an der Grenze zwischen Kolumbien und Pananma sind Süd- und Nordamerika über eine Landbrücke miteinander verbunden. Die Panamericana jedoch, die Straße, die den gesamten Amerikanischen Kontinent von Alaska im Norden bis nach Feuerland im Süden durchquert, ist an dieser Stelle für etwa hundert Kilometer unterbrochen. Im Westen der Pazifische Ozean, im Osten die Karibik, dazwischen liegen Berge, Sümpfe, Flüsse und dichter Regenwald. Indigene Stämme leben in dem Gebiert. Aber der unübersichtliche Dschungel ist auch Drogenschmuggelort, Gebiet illegaler Machenschaften und Raubbaus. Kurzum: ein einzigartiger, schwer zu überwindender Naturraum mit Regenwald, besonderer Flora und Fauna, den man aufgrund verschiedenster Gefahren besser nicht durchqueren sollte. Dennoch, einige wenige, touristisch erschlossene Orte liegen hier an der Karbikküste. Und die sind nur mit dem Boot zu erreichen. Jetzt steigen wir aus in Capurgana. 

Wir wollen nach Sapzurro, ein Dorf vier Kilometer weiter, in einer kleinen Bucht gelegen. Also wandern wir los über den Berg rüber, einen Weg durch den Dschungel. Es ist heiß und die Luftfeuchtigkeit ist erdrückend. An einem Stein sitzt ein Junge, nicht älter als zwölf, fragt uns, ob wir Drogen kaufen wollen. Und als wir weitergehen: „Passt auf, dahinten sind gefährliche Afrikaner.“ Wir folgen dem Weg. Nicht lange und wir sind inmitten einer großen Gruppe Flüchtlinge. Menschen schleppen sich den steilen Pfad nach oben. Die Hitze und die Luftfeuchtigkeit machen ihnen offensichtlich zu schaffen. Frauen und Männer keuchen den Berg hoch, Babys und Kleinkinder werden getragen. Ein Mann hat sich gleich zwei große Rucksäcke aufgeladen. Wasserkanister werden geschleppt. „Vamos, Vamos“ feuert eine Frau die anderen an, „nur noch bis oben, dann machen wir eine Pause“.  „Woher kommt ihr?“, fragen wir eine Frau, auch sie hat Kinder bei sich. „Aus Chile“. -"Und wohin wollt ihr?"- „Erstmal nach Mexico.", meint die junge Frau.

Gegenfrage: „Und ihr?“- „Bis Sapzurro in den nächsten Ort, dann sind wir da.“ und es ist uns furchtbar unangenehm. Sie lacht fassungslos auf: „Por Vacationes! Ihr seid hier zum Urlaub machen?" Oben trennen sich unsere Wege. Die Gruppe zweigt in den kleinen Dschungelpfad ab, der den Bergkamm weiterführt in Richtung Panama. Die nächsten neun Tage laufen sie durch das Darién-Gap. Unglaublich, dass über diesen Weg jährlich tausende Menschen versuchen, in Richtung U.S.A zu kommen. Ein Abschnitt auf der Flucht voller Gefahren: der Dschungel selbst, Gewalt durch bewaffnete Gruppen, Menschen, die zu Drogenschmuggel missbraucht werden. Die Menschen kommen aus vielen Teilen der Welt, von Karbikinseln, aus Afrika, Asien und Südamerika.… Es ist schwer zu begreifen: wir machen hier Urlaub, andere Menschen sind auf der Flucht. 

Sapzurro ist ein kleines Dorf. 400 oder 500 Leute wohnen hier in der schönen Bucht, keine fünf Minuten zu Fuß von Panama entfernt. Wir schlagen unser Zelt im Hostal-Garten auf, direkt am Meer. Es dauert ein paar Tage, bis sich Ruhe über uns legt. Jetzt genießen wir die Abgeschiedenheit. An den Tagen, an denen das Meer ruhig und flach vor uns liegt, schnorcheln wir durch die Bucht, schwimmen mit bunten Fischschwärmen über rote Korallen. Das Wasser ist das ganze Jahr über warm. Außerhalb der Bucht ist das Meer rauer. Die Strände sind traumhaft schön. Immer wieder aber spült das Meer Plastik an den Strand. Dort, wo die Strömung hingelangt, verfängt sich Müll in den Wurzeln der Palmen. Am Strand ernten wir Kokosnüsse und Arne übt sich mit der Machete. Eigentlich gibt es nur zwei Wege hier, den an den Strand oder den in den Wald hinein.  Unterm Blätterdach des Dschungels flattern handgroße, blaue Schmetterlinge, schweben wie Papier und bewegen sich dennoch schnell. Eine gigantische Ameisenstraße läuft durch den Wald. Brüllaffen sitzen im hohen Baum und markieren ihr Revier, in dem sie sich gegenseitig anbrüllen.

Durchs Dorf führen keine Straßen, sondern kleine Fußwege. Es gibt weder Autos noch Mopeds. In Sapzurro geht man langsam, v.a. aber sitzt man gerne und guckt einfach, was passiert. Wir sind jetzt mit der Hängematte verwachsen und mit dem Wellenrauschen, das uns von morgens bis abends umgibt. Noch eine Woche Abgeschiedenheit. Dann kommen wir zurück nach Europa.

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