Türkiye - Kapadokya'dan Doğubeyazıt'a


„In jedem Fall werden wir viel Alkohol trinken morgen Abend! Entweder, weil wir gewinnen oder weil die beschissene Islamisierung fortschreiten wird. Dann sollten wir saufen, bevor es verboten wird.“

 

Wir sind in Doğubeyazıt angekommen, eine 75.000 Einwohner Stadt unweit der iranischen Grenze. Dahinter kommt nichts mehr, so sieht es zumindest aus. Ein bisschen schmuddelig und wuselig ist die Stadt. Größte Sehenswürdig der beeindruckende Ischak-Pascha-Palast, der über der Stadt auf dem Vorsprung eines Bergrückens thront. Vom Palast aus ist der nahegelegene Ararat allerdings nicht sichtbar. Die Tochter des Palasterbauers, die sich in einen einfachen Bergjungen verliebt hat, sollte von hier aus nicht zum Ararat hinüberschauen können. Von der Stadt aus allerdings ist der Ararat gut zu sehen, wenn die schneebedeckte Kuppe nicht gerade wolkenverhangen ist. Büyük ağrı dağı- der höchste Berg der Türkei und Nationalsymbol der Armenier- die bis zum Völkermord unter anderem hier ihr Siedlungsgebiet hatten. Der Berg Ararat – im armenischen Wappen enthalten. Der Türkei wiederrum gefiel es überhaupt nicht, dass Armenien den Berg, der sich doch auf türkischem Territorium befindet, für sich vereinnahme. Der Konter: „Die Türkei führe die Mondsichel in der Flagge- obwohl weder der Mond noch ein Teil davon zur Türkei gehörten“.

 

Der Büyük ağrı dağı ist aber auch PKK-Gebiet und in Doğubeyazıts Poizeistation hängen gut sichtbar vier Fotos gesuchter PKK-Terroristen aus. Drei sollen noch gefangen werden. Das rechte Bild allerdings wurde bereits in der neuen Version ausgedruckt. Das Plakat ist fett und rot durchgestrichen und demonstriert für alle sichtbar: „Ihn haben wir gefasst und getötet!“

 

Dem Berg selbst sieht man von alledem nichts an. Er steht mächtig, schön und beeindruckend da, während um ihn herum dunkle türkische Geschichte geschrieben wurde. Obwohl die Landschaft der Gegend eigentlich sehr trocken ist, ist der Berg selbst, über dem sich so gerne Regenwolken bilden, von viel Grün umgeben. Wir erstrampeln uns auf dem Nebenpass einen Blick auf den Berg, verbringen unsere Pause mit dem freundlichen Hirten Murat, der unweit der Straße seine Sommerjurte aufgebaut hat. Neben dem Familienzelt ist das Nachtlager der vielen Schafe zu erkennen, eingezäunt wie hier so typisch in der Gegend von eine Mauer aus aufeinandergestapelten Felssteinen.

 

Vom Norden her sind wir zum Ararat gefahren, von Kars über Ani, dicht an der armenischen Grenze langgeradelt. Allerdings liegen zwischen Kars ganz im Osten der Türkei und Kayseri, der Stadt nahe Kapadokya etwa 850 km. Die Strecke dazwischen – Inneranatolien- gehört zu den trockensten Gebieten Anatoliens. Vielleicht das beste Stück zum Überspringen- denn alle Ecken des großen Landes können wir leider sowieso nicht entdecken, sonst würde in Kirgisistan bereits ziemlich viel Schnee auf uns warten. Wir haben also etwa 6 Wochen in der Türkei und wollten nicht stur die großen Straßen geradeaus fahren, einfach nur um Strecke zu machen. Wir haben den Bogen Schwarzmeerküste und Kappadokien gewählt und jetzt wollen wir noch die Umgebung von Kars sehen. Dank Reisewarnungen sind wir leider in den meisten Kurdengebieten nicht krankenversichert Es ist Zeit für einen Kompromiss. Wir müssen uns sowieso damit abfinden, nicht alles sehen zu können und uns lieber freuen, wie viel wir überhaupt sehen dürfen. Wir streichen also ein wenig wehleidig Mardin und Diyarbakir und den riesigen Vansee und pfeifen auf trockenes Hochland und kaufen uns für Spottpreise zwei Tickets für den „Doğu Expresi“- von Kayseri nach Kars werden wir mit dem Zug rattern.

 

Wir rollen los von Kapadokya nach Kayseri- tatsächlich ist es schon jetzt ganz schön trocken um uns herum. Ähnlich das Angebot der Straßenstände- sie bieten eine riesige Auswahl an Trockenfrüchten in allen Farben und Größen. Und es ist Kaysı-Aprikosen-Zeit. Daher tummeln sich am Straßenrand auch die vielen Kofferraumverkäufer, die in der Mittagshitze zwischen ihren Kaysı-Kisten und unter ihren Sonnenschirmen wegdösen.

 

Die Millionenstadt Kayseri begrüßt uns mit Wahlkampfveranstaltungen, Wahlplakaten und dem furchtbaren AKP-Erdoğan-Song. Bisher haben wir den „Wahl“-kampf nur in kleineren Orten erlebt. Erstens in Form von den vielen nichts aussagenden Girlanden, die patriotischer Kindergeburtstags-dekoration gleichen. Hauptdekorateure waren in diesem Fall die AKP mit ihrem zynisch wirkenden, für Fortschritt stehenden Glühbirnen-Motiv sowie deren nationalistische Bündnispartei MHP, die ihre Wimpel sehr kreativ mit der türkischen Flagge gestaltet hat. Dazwischen immer mal wieder Sonnenmotiv-Wimpel der auch nicht wählbaren Iyi-Parti- „Gute Partei“. Einzig gut- dass sie Teil des Bündnisses gegen die AKP darstellt. Und es wedelte der CHP-Schriftzug umher. Neben Wimpelketten konnten wir in den letzten Wochen viele hübsche, riesige Portraits der Kandidaten angeschaut. In manchen Kleinstädten hat Recep Tayıp Erdoğan ganze Wohnhäuser hinter sich versteckt. Vor allem aber wurde aus umherfahrenden Parteiautos heraus Wahlkampf betrieben. Diese fahren mit riesigen Boxen auf dem Dach durchs Land mit ihren laut aufgedrehten Wahl-Songs. Eigentlich singen sie alle „Wählt uns! Geht wählen!“, wird uns erklärt. In Kayseri gesellen sich Wahlplakate (mit Schrift!) hinzu. Die Plakate hier stammen jedoch zu 100% von der AKP. Der Präsident, der eigentlich noch keiner ist, schaut uns von jeder Straßenlaterne an. Unser Lieblingsslogan: „Büyük Türkiye güçlu lider ister“ – „Die große Türkei will einen starken Führer“. Uns will nicht so recht einfallen, woran uns die Rhetorik erinnert. In einer Woche ist die Wahl, wir werden sehen.

 

Jetzt heißt es für uns und unsere zwei neuen englischen Radfreunde erstmal Warten-Warten-Warten. Auf den Zug. Wir sind übermüdet. Die Stunden ziehen sich. Warten- das kennen wir vom Fahrradfahren gar nicht mehr. Immer, wenn man vorwärts kommen will, kommt man vorwärts und wenn man anhalten will, hält man an. Ich habe mich sehr auf ein Stück Zug fahren gefreut. Jetzt, da wir Zug sitzen, finden wir, dass das einfach nicht „unser“ Verkehrsmittel ist, so sehr haben wir uns jetzt an unsere Art zu reisen gewöhnt. Wenn wir radeln, sind wir immer hundertprozentig da. Wir sehen, riechen, hören und spüren die Umgebung, die Anstiege und Abfahrten, sehen den stetigen Wandel, auch wenn man mal ein wenig geistig davondriftet. Aber nie kann man das drum herum verpassen, weil man schläft oder liest oder schreibt oder sich im Speisewagen unterhält und Backgammon spielt. Dennoch ist der Speisewagen im Doğu Expresi ein wunderbarer Ort. Und durch das Loch der Zug-Hocktoilette direkt auf das Gleis zu machen, hat durchaus Witz.

 

Eines wurmt uns und unsere Mitreisenden aber wirklich: der Zug rattert hunderte Kilometer durch wunderbare, sattgrüne Landschaft, immer am Fluss entlang. Parallel zu uns verläuft eine ideale Straße zum Radeln. Sollte hier nicht alles vertrocknet sein? Liebe Radreisende da draußen, solltet ihr nach einem wirklich schönen Radabschnitt suchen, um bis in den Osten zu kommen, folgt einfach den Schienen dieses Zuges. Und jetzt fahren wir auch noch an einem Radreisenden vorbei! Oh manno!

 

Schnell vergessen ist der Unmut über unsere Entscheidung, Zug gefahren zu sein. Wo ist das Portemonnaie? Alle Packtaschen sind in Windeseile auf dem Bett unseres Billighotels ausgeschüttet. Scheiße! Das muss wohl im Zug liegen. Wir rasen mit dem Fahrrad zurück zum Karser Bahnhof- und der Zug rollt direkt vor unserer Nase los. Die Tür ist offen. Ich springe am besten in den fahrenden, dunklen Zug – und dann? „DUR!“- Stopp- rufen die beiden Männer, die mit uns fiebern. Arne sprintet zum Zugführer- der Zug hält. Uff. Schlafwagen, Gepäckwagen und endlich: Vagon üç – Sitze 40/41. Und dazwischen und darunter ist nichts. Mist.... Ah! In geistiger Abwesenheit hat einer von uns das Portemonnaie zwischen Klapptisch und Vordersitz geklemmt. Jetzt aber ein Efes!

 

Und jetzt- endlich wieder- Radeln und Reisegefühl. Wir fühlen uns anfangs ein wenig wie ausgesetzt. Sind auf einmal in einer neuen Umgebung und wissen nicht ganz, wie wir hierhergekommen sind. Aber wow! Die Strecke zwischen Kars und Ani ist baumlos, sattgrün und blumig. Rundherum ragen mehrere Schneekuppenberge weit entfernt aus der Landschaft empor. Vereinzelt stehen Pferde herum. Die Hirten unserer heutigen Schnack-Stopps sind um einiges zahnloser als bisher, ihre Klamotten dreckig. Seit einer Ewigkeit rennt uns mal wieder ein Hund hinterher. Die Dörfer sehen anders aus, farblich dominieren braun und schwarz. Die Fassaden sind aus altem Stein oder lehmverputzt. Jedes Grundstück ist von einer Mauer umsäumt, entweder aus großen Steinen oder getrocknetem Kuhdung. Auf den Grundstücken selbst ist der Boden einfach nur schwarz, denn nachts stehen hier die Kühe oder Schafe. Nutzfläche statt Deko-Garten. Separat abgetrennt ist das Gemüsebeet. Gänse watscheln umher. Auf großen Flächen trocknet weiterer Kuhdung. Gepresster, getrockneter Mist- wichtiges Baumaterial und bestes und einziges Heizmittel in der baumleeren Gegend. Der Mist lockt viele schwarze Raben an. Ihre Anwesenheit verleiht den Dörfern etwas Mystisches.

 

Die Ruinen von Ani- heute ein sehr romantisches Fleckchen Erde. Früher Hauptstadt des Armenischen Königreiches. Die Stadt zählte zu ihrer Blütezeit im elften Jahrhundert etwa 100.000 Einwohner. Immer noch zu sehen sind die Brückenreste, die einst Teil der Seidenstraße waren. Steine und Ruinen sind überwuchert von Blumen und vom Grün. Dass raue Flusstal des Aras zieht sich in einer tiefen Kluft durch die Landschaft- hier verläuft die Grenze zu Armenien. Vereinzelt streift eine Kuh umher. Die alten Gebäude in der Landschaft sind beeindruckend schön.

 

„Guck mal genauer hin. Dieser verzierte Stein da.“ Wir frühstücken mit Güneş (68) und ihrem äußerst adrett gekleideten Mann Yener (82). Sein Gebiss klappert auffällig laut und scheint nicht fest zu sitzen. Auf der Wäscheleine hängen unsere Schlafsäcke, auf dem Grundstück haben wir gezeltet, hier -ein Stück entfernt von den Ruinen- im neuen Ani. Denn Ruinen sind nachts überwacht und denkmalgeschützt. Dass waren sie allerdings vor 80 Jahren noch nicht, als das Haus neben uns gebaut wurde. Für den Bau der Häuser des neuen Ortes wurden die Steine des alten Anis zusammengetragen.

 

Es dauert eine Weile, bis wir die Außentoilette als solche klar erkennen können. Das muss die Toilette sein, sonst wäre doch kein Vorhang davor. Ein dachloser Ruinenraum. Zwei Steine sind, schulterbreit voneinander entfernt, in den lehmigen Boden eingelassen, wie beim klassischen Hock-Klo. Aber da, wo sonst ein Loch ist, ist kein Loch. An der Mauer lehnt eine Schippe. Selber buddeln ist also angesagt. Auch im Haus ist es einfach gehalten. Kein Luxus. Kein Schnulli. Den Abend-Çay gestern gab es drinnen, neben dem Podest-Bett am Bollerofen. Auch der wird mit Kuhmist befeuert. Aber das Grundstück der beiden unterscheidet sich deutlich von den anderen im Dorf. Darauf wächst Gras und höchstens der Nachbar nutzt das große Gelände für Gänse und Hühner. Auch wenn es jetzt gar nicht zu dem Bild passt, aber Güneş und Yener sind schon seit 50 Jahren Großstätter und kommen nur im Sommer für vier Monate her. Sonst leben sie in Izmir. Yener war 28, als er zum zweiten Mal geheiratet hat. Güneş war damals 14. Ziemlich bald sind sie nach Izmir gezogen und die Zeit, als hier auf dem Grundstück hunderte Kühe standen, ist schon lange Geschichte.

 

Die Erde ist tiefrot geworden. Ein toller Kontrast zum Grün um uns herum. Vorhin noch hat Yilmaz mit seinem Pferd Heu zusammengetragen. Hier, vor Tuzluca, wächst nichts mehr in der staubig, traurigen Landschaft. Nur die Anzahl der Polizeikontrollposten nimmt zu. Wir fahren an Stationen mit schwer bewaffneten Soldaten vorbei, sehen viele Militärfahrzeuge. Befremdlich. Das Militär zeigt Präsenz.

 

Der Kaysı- Express ist unterwegs. Arne ist mit viel zu vielen, aber wirklich leckeren, Aprikosen beladen. Wir sollen uns unbedingt ganz viel davon mitnehmen morgen früh, sagt uns der Plantagenbesitzer, der uns auf seiner grünen Obstbaum-Oase zelten lässt. Frühstück mit dem benachbarten Imker Yasin. Rosenmarmelade aus dem Garten. Der Teekocher wird mit Holz betrieben, das Wasser brodelt. Während Arne die extra Kilos Aprikosen bergauf transportiert, fahren wir an unzähligen Kaysı-Ständen vorbei. An uns vorbei wiederum zieht der laut hupende, fröhliche und sympathische Autokonvoi der linken und Minderheiten vertretenden HDP. Ein lautes „Hello! Hello! Hello!“ dröhnt aus dem Dachlautsprecher! Aus den Autofenstern winken die vielen Hände, die Finger zum Peace-Zeichen geformt. Gute Stimmung und gute Laune.

Viel Optimismus und viel Hoffnung, auch bei Aliş und Emo, zwei Tage vor der Wahl.

 

Montag, 25 Juni 2018. Die Stimmung ist geknickt, jegliche Euphorie, die in den letzten zwei Tagen aufgeflammt ist, ist verpufft. Aliş‘ Angespanntheit von gestern Abend ist nun Müdigkeit gewichen. Gestern kam er spät nach Hause, hat uns umarmt und gejubelt. „Das war’s mit dem beschissenen Islamismus! Für Demokratie!“. Er hat den ganzen Tag als Wahlhelfer in einem kleinen Dorf gearbeitet: 165x HDP, 10x AKP, 2 x CHP. Die Zahlen, die wir im Fernsehen sehen, sollen wir nicht glauben, sagen sie uns beim gemeinsamen Wahlergebnis gucken. Ein anderer Sender wird angemacht. Wir sehen die gleichen Zahlen und hören ständig das Wort „manipülasyon“.

 

Sind nun 35% der Stimmen ausgezählt oder 90%? Ist es relevant, ob die Ergebnisse stimmen? Würde das irgendwas ändern? Während wir noch auf den Fernseher starren, wird um uns herum das geglaubt, was auf Twitter oder Instagram zu erfahren ist. Jetzt ist es soweit, das Ding ist entschieden. Gelaufen. Die Zukunft unserer Dogubeyazıter Freunde ist vernebelt. „I will smoke a lot of Hash Hash the next four years.“ Ob die Türken den starken Führer nun wollten oder nicht, jetzt haben sie ihn. Wir können einfach gehen. Weiterreisen. Diejenigen, die wir kennengelernt haben, müssen mit der Situation umgehen.

 

Cenk war müde, über Politik zu reden. Er wollte nicht wählen gehen. Er glaubte nicht an irgendeine positive Veränderung. Unsere Karabüker Fahrradfreunde wollten wählen gehen, waren aber auch nicht gerade voller Hoffnung. Sowie unser Campingplatznachbar. Der Imker, der uns zum Frühstück einludt, ist alter Sozialdemokrat und die AKP-Politik steht ihm bis zum Hals. Viele haben die Schnauze voll, sagte er, und die CHP wird viele Stimmen bekommen. Unsere Dogubeyazıter Freunde wählten ganz klar die HDP mit ihrem aus dem Gefängnis heraus kandidierenden Demirtaş. Gemeinsam haben wir Demirtaş‘ „Korkma bağır“ gesungen. Können und wollen sie jetzt noch in der Türkei bleiben? Unsere Freunde sind sich nicht sicher.

 

Philosophielehrer Emo und Musiklehrer Aliş fühlen sich in ihren konservativen Lehrerkollegien bereits jetzt schon fehlplatziert. Da sind die Rasier- und Kleidungsvorschriften das kleinste Übel. Sie berichten von Lehrerinnen und Lehrern die, die kurdischen Kinder nicht leiden können und diskriminieren. Zudem besorgt sie die zunehmende Re-Islamisierung der letzten Jahre und das, was noch kommen wird. Seit 2011 ist das Kopftuchverbot für Schülerinnen, Studentinnen und Lehrerinnen abgeschafft und auch die Ganzkörperverschleierung in Bildungseinrichtungen erlaubt. Aus Gesamtschulen werden Imam-Hatip-Schulen, die ja ursprünglich Imame ausbildeten und natürlich weiterhin den Fokus auf Religionsunterricht legen. Mit der Umstrukturierung darf das Kopftuch jetzt bereits ab der fünften Klasse und nicht erst ab dem neunten Schuljahr getragen werden. Bei der Hochschulzulassung macht es keinen Unterschied mehr, ob man auf eine geistes-oder naturwissenschaftlichen Schule ging oder von einer religiösen Akademie kommt. Die Sorge steigt, dass religiöse Fanatiker Staatsbeamte werden können. Die Evolutionstheorie wird aus dem Lehrplan gestrichen. Sie sei zu kompliziert und kontrovers für Neuntklässler und solle nur noch an der Universität gelehrt werden. Selbst im Iran gibt es Unterrichtsstunden zur Evolutionstheorie und zu Darwin. In der Türkei ist Religion nun Pflichtfach. „Koran“, „Das Leben des Propheten Mohammed“ und „Arabisch“ sind die neu eingeführten Wahlfächer. Bestimmt nicht so schlimm. Es sind doch immerhin 99% der türkischen Bevölkerung Muslime. Denn jeder Einwohner der Türkei, der nicht explizit einer anderen Religion zugehörig ist, wird als Muslim erfasst. Auch Nichtgläubige und atheistische Menschen zählen statistisch dazu.

 

Wir sind jetzt seit sechs Wochen in der Türkei. Wir gewöhnen uns daran, Gast zu sein. Denn es ist schön, hier Gast zu sein.

 

Man betritt ein Haus oder eine Wohnung, zieht seine Schuhe aus- die kitschigen samtigen Hausschuhe hat der Gastgeber schon in einer geübten Bewegung vor den Gast geschoben- jetzt müssen wir nur noch reinschlüpfen. Die zweite wichtige Sorte Schuh ist aus Plastik. Aus den Samtschuhen raus- rein in die Plastiklatschen. Diese Toiletten-Latschen sorgen dafür, dass die Pipitropfen nicht in der restlichen Wohnung verteilt werden. Und tatsächlich haben sie ihren Sinn, denn schon lange pinkeln wir nicht mehr in Sitz-, sondern in Hocktoiletten. Hier spritzt der Strahl etwas weiter zurück.

 

Wir gewöhnen uns an Tee als tägliches Getränk, auch bei 35 Grad. Wir gewöhnen uns an Stromausfall, an die Muezzin Gesänge tagsüber. Nachts aber wachen wir auf, verärgert über den lauten Gesang. Wir gewöhnen uns an die vielen Einladungen. Wir sind hier gerne Gast und stets willkommen.

 

Heute, kurz vor der Ausreise aus der Türkei, werden wir noch mal mitgenommen. Ein Freund von einem Freund von einem Freund feiert Hochzeit. Natürlich sind wir eingeladen!

 

Heute Abend also nochmal ein kleiner Kulturschock. Ohrenbetäubend laut wummert die Musik. Etwa hundert Leute tanzen den traditionellen Halay, einen Reihentanz, bei dem sich die Tanzenden mit den kleinen Fingern einhaken. Die Arme sind angewinkelt und schwingen im ewig gleichen Takt, vom Trommler verstärkt. Wir reihen uns ein, die kleinen Finger schwitzen an der Einhakstelle. Bingo, das Brautpaar ist nur zwei Meter neben uns. Allerdings scheinen wir viel mehr Spaß zu haben als die beiden. Die Braut guckt nahezu ausdruckslos. Immerhin, sie lächelt zurück. Jetzt fühlen wir uns nicht mehr wie unverschämte Hochzeits-Crasher.

 

Leider gucken die beiden beim nächsten Programmpunkt genauso bedröppelt. Elendig lang zieht sich die Prozedur. Alle Gäste drängen sich nacheinander an den Tisch des jungen Paares. Daneben steht ein Mann am Mikrophon. In Jahrmarktsmanier und Dauerschleife verkündet er Geldbeträge und die Namen der Geldgeber, hält den entsprechenden Schein kurz hoch, der anschließend in einer großen Tasche landet. Das Ganze in einer unerträglichen Lautstärke. Alis hatte uns vorher gewarnt, wir werden nicht so lange bleiben, denn sonst hätten wir morgen alle ein Dauerfiepsen im Ohr.

 

Komm, wir gehen Essen. Erst als wir sitzen, fällt uns auf, dass Hanna die einzige Frau hier oben an den Tischen ist. Erst essen die Männer. Diese bescheuerte „Männer-zuerst-Kultur“. Frauen und Kinder werden danach abgefertigt. Das trifft es ganz gut, denn diese Hochzeit wird eindeutig unter dem Motto „Masse statt Klasse“ gefeiert. Plastiktischdecke, Plastebesteck, Ekmek-Weißbrot-Scheiben in der Plastiktüte, Pappbecher. Pepsi und Yedi-Gün-Orangenbrause stehen in 1,5 L-Plastikflaschen auf dem Tisch. Alkohol yok- gibt es nicht. Der mehrstöckige, alte Mensa-Essenwagen rollt an den Tisch. Dreigeteilte Styroporteller à la Essen-auf-Rädern landen auf dem Tisch. Im großen Fach: fettiger Reis. Im mittelgroßen Fach: Geschnetzeltes. Im kleinen Fach: Joghurt. Während wir hier oben Kantinenessen verspeisen, sitzt unter den weißen und blauen Luftballons immer noch das Brautpaar am Tisch. Die Geldaktion ist zu Ende, jetzt werden große Geschenkkisten umhergetragen. Die Speisewagen-Jungs kommen mit blauen Mülltüten an die Tische. Das Plastikgeschirr von etwa 150 Männern und einer Frau landet im Müll. Die Tische werden halbherzig gereinigt, die Tischdecken nicht ausgetauscht. Jetzt beginnt Runde 2: Frauen und Kinder können essen kommen. Uns ist ein bisschen schlecht vom Essen.

 

Wir gehen- nicht ohne jede Menge Selfies. Sehr interessante Erfahrung. Furchtbare Hochzeit. Jetzt wissen wir, warum Aliş nur kurz mit uns auf die Hochzeit wollte und warum Emo lieber zu Hause geblieben ist.

Zu Gast in der Türkei- eine tolle Zeit für uns. Leider sind nicht alle hier so willkommen wie wir. Wir verlassen die Türkei, in der wir so gerne reisen, aber nicht gerne leben würden. Unterdrückung von Kurden, Homosexuellen und anderen Minderheiten. Die unfassbar hohen Zahlen der Entlassungen und Verhaftungen, der geschlossenen Hochschulen, Vereine und Verlagshäuser. Die Re-Islamisierung, auch als Folge vieler Fehler aus der Zeit des Kemalismus. Klar- das schwingt mit. Dennoch: Zu Gast in der Türkei- eine tolle Zeit für uns.