Peru II - Limeños, Mineros y Políticos


Hörend mitradeln:


Auch wenn Temperatur und Geräusche sich so unmittelbar anfühlen wie im Zelt, wir sind in einem Haus und in der städtischen Komfortzone. Wir haben ein Dach aus Blech über uns. Im Zimmer gibt es ein Gasherd, dessen explosives Verhalten alle ein wenig fürchten. Wir haben sogar eine warme Dusche bei unserem immer grinsenden Warmshowershost Abel Jesus. Auch wenn uns der in Südamerika verbreitete, elektrische Duschkopf mit seinen Kabelverbindungen ein wenig ängstigt. Wir können endlich mal unsere Wäsche waschen- per Hand- claro. Wir haben fließend Wasser, allerdings nur morgens und abends. Tagsüber kommt auch in Huancayo wieder stundenlang nichts aus der Leitung. Das Wasser aus dem Hahn ist 'agua potable', obwohl "Trinkwasser" hier ein wenig anders definiert wird: ‚kann man trinken, wenn es abgekocht wurde‘. In Peru wird uns wieder gezeigt, dass die Versorgung mit Wasser überhaupt nicht selbstverständlich ist, schon gar nicht mit sauberem Trinkwasser. Ein geschätztes Drittel der Menschen im Land hat überhaupt kein Wasseranschluss und etwa 40% der Bevölkerung keine Kanalisation.

 

Wir wollen das Stadtleben wieder hinter uns lassen. Der Plan geht aber heute nicht auf. Mal wieder eine Lebensmittelvergiftung: diesmal ist es Arne, der die Nacht auf der Toilette verbringt. In Peru trifft es alle mal. Kein Wunder. Das Wasser ist an vielen Orten kontaminiert. Müll ist ein Thema für sich. Hygienische Standards können nicht immer eingehalten werden, auch wenn sich die Frauen der Straßenverkäufe meist darum bemühen, auch wenn die Menschen die Suppenlöffel vor dem Essen mit Limette und Serviette reinigen. Letztendlich weiß man nie, wo man sich das jetzt wieder geholt hat. Meistens ist nach 24 Stunden alles wieder draußen. Wenn sich das Ganze aber über Tage hinzieht, kann das auch unschön sein. Nichts bleibt drinnen, vor lauter Krämpfen ist Schlafen kaum möglich. Fiebrig. Schlapp. Also gehe ich in Ayacucho doch mal vorsichtshalber zum Arzt.

 

„Wollen sie Medikamente oder einen Arzt Konsultieren?“, begrüßt mich die Empfangsdame. Der Arzt hört die Symptome. Ich zeige meinen Impfpass. „Auf jedenfall Antibiotikum“, meint der Doktor. - „Aber Sie wissen doch noch gar nicht, was ich habe. Können wir nicht Tests machen?“- „Stimmt.“, sagt der Arzt. Also geht's hoch ins Labor zu Blut- und Stuhltest. Da, wo ich meine Stuhlprobe nehmen soll, gibt es weder Toilettenpapier noch Seife. Das Poster über dem Waschbecken: eine Anleitung zum korrekten Händewaschen und Desinfizieren. Mittags haben wir dann zwar die Ergebnisse des Labors, aber ein Arzt, der diese auswerten könnte, ist leider nicht mehr da. In zwei Tagen sollen wir wiederkommen. Auf unser Drängen wird doch ein Arzt kontaktiert. „Wir schicken ihm ein Foto von den Testergebnissen per Whatsapp und er schreibt Ihnen dann ihre Medikamente auf“ , heißt es dann. Fünf Minuten später ist die lange Liste an Medikamenten da, die ich jetzt kaufen soll. Das Antibiotikum soll mir die Schwester in einer Stunde intravenös geben, sagt man mir. Nur eine Diagnose habe ich nicht bekommen. „Was habe ich denn eigentlich?“ - „Typhus.“ - „Ganz sicher?“ „Hundert Prozent. Der Arzt hat ihnen doch die Medikamente aufgeschrieben.“ Da sitzen wir jetzt. Ich völlig erschöpft. Testergebnisse auf Spanisch in der Hand. Typhus soll ich haben. Trotz Impfung. Kein Arzt da. Niemand, der Ahnung hat. Nur eine fette Medikamtenkeule vor Augen. Arne liest noch mal in den spanischen Laborergebnissen nach: die leicht erhöhten Typhusmarker seien wohl auf eine Vorerkrankung oder eine Immunisierung zurückzuführen. Das heißt das doch, oder? Aber sprechen können wir hier mit niemanden. Also gehen wir zum 'hospital público'. Das öffentliche Krankenhaus sieht aus wie der Tod. Es fällt uns schwer, nicht gleich wieder umzudrehen. Hier fängt man sich sicher noch Schlimmeres ein. Dennoch finden wir einen Arzt auf dem Gang, der sich jetzt gründlich die Testwerte anschaut. Daumen hoch! Es ist alles in Ordnung. Thypus könne man jetzt auch noch gar nicht nachweisen. Und so entkomme ich dem dicken Medikamtencocktail des unsichtbaren Whatsapp-Doktors. Zwei Tage später geht es mir wieder richtig gut und wir hoffen nur, dass wir in Peru nicht nochmal zum Arzt müssen.

Jetzt sind wir beide wieder fit, wollen rein in die Berge und lassen das Stadtleben hinter uns. Raus aus Huancayo, parallel an den Bahnschienen entlang, dem breitesten Fußweg der Stadt. Heute, am Samstag wird gefeiert. Auf dem Platz vor der Kirche spielt die Hochzeitsband. Festlich zurechtgemachte Musiker im Einheitsanzug kombinieren die Klänge der Saxophone, der Trommeln und der dickbäuchigen Andenharfe. Nur die Musiker der Konkurrenzband, die sich schon für die nächste Hochzeit vorbereiten, pusten rücksichtslos dazwischen und stimmen 20m weiter ihre Blasinstrumente. Langsam lassen wir Huancayo und seine Vororte hinter und unter uns. Wir schlängeln uns im Schneckentempo die Serpentinen nach oben, stundenlang derselbe Blick aufs Tal. Da unten findet noch eine Party statt. Begleitet vom schnellen Beat der Liveband, zu schnell, um im Takt mittreten zu können, kommen wir höher.

Einmal rüber über den Berg ist die Welt eine Andere. Hier oben ist die Straße Schotter und zwischen den einzelnen Häusern liegen Ewigkeiten. Es wächst nichts. Es kann kein Gemüse angebaut werden. Nicht mal Mais oder Kartoffeln, meint der Hirte. Die Menschen, die sich hier aufhalten, sind entweder Minenarbeiter oder mit ihren Tieren unterwegs, mit Alpakas und Schafen. Wolle und Fleisch geben sie. Die Schafe schmecken besser, sagt die alte Hirtin, die jetzt mit ihrem Mann am Straßenrand sitzt. Ihre Tiere sind, wie alle hier, mit farbigen Wollbändchen gekennzeichnet, wie puschelige, knallbunte Ohrringe. Immer wieder fahren wir an Herden vorbei. Manchmal drängeln wir uns mit unseren Rädern durch Tiermassen hindurch. Jetzt schieben wir uns durch etwa 500 Schafe, Lamas und Alpakas, die die Straße verstopfen und von reitenden Hirten angetrieben werden. Ins Packnetz des Pferdes wurden zwei frisch geborene Lämmchen gestopft, die mit dem Tempo der Karawane noch nicht mithalten könnten.

In den Bergen trifft man selten auf andere Menschen, also halten wir an, wenn wir doch mal einen sehen. Immer ein kleiner Wegesschnack und obwohl es hier weit und breit nur eine Straße gibt, fragt uns jeder, woher wir kommen und wohin wir fahren. Wir müssen die Namen der Nachbardörfer parat haben, denn die sind ab jetzt die wichtigsten Worte in den Gesprächen mit den Einheimischen. Laraos, Tinco, Vitis, Huancaya, Vilca und Tanta: alles Dörfer an der Sandpiste, die uns durch den Nor Yauyas-Cochas Nationalpark führt. Über mehrere Pässe auf über 4900m. Aus der Vogelperspektive schauen wir auf die steilen Serpentinen, die sich hier die Berge hinaufschlängeln. Um uns herum weit und breit nur Berge, trockene Erde und blauglitzernde Bergseen. Teils schieben wir mehr, als dass wir fahren, so steil wird die Piste. Auch die Abfahrten holpern wir über die Steine und Brocken kaum schneller runter, als wir zu Fuß gehen würden. Autos begegnen uns kaum, Menschen sind häufig wandernd oder auf Pferden unterwegs. Der kleine Junge treibt jetzt seine drei Schafe den Pass hinauf. Er ist einer von vielen peruanischen Kindern, die mit zehn Jahren arbeiten müssen und nicht in die Schule gehen.

Kommen wir tiefer, mischen sich wieder Pflanzen in die Kargheit, breitet sich um uns herum der intensive Geruch von trockener Luft, Wildkräutern und Eucalyptus aus. Kleine Bäche plätschern, auf Feldern werden Futterlupinen angebaut, daneben wachsen Kakteen. Die Landschaft ist irre abwechlungsreich. Durch die Berge zieht sich in einer tiefen Schlucht der río cañete, führt uns von Lagune zu Lagune, vorbei an Wasserfällen, zu grünen Wiesen und in fjordähnliche Landschaften. In den kleinen Dorfläden gibt es kaum etwas. Schützend hält die Verkäuferin ihre Hand vor das Tomatenkörbchen. Wir dürfen nicht mehr als 5 Tomaten kaufen, sonst hat sie doch kein Gemüse mehr übrig. Abends, wenn die Geräusche von Schafen oder vom Fluss verschwunden sind und unsere Räder verstummt, macht sich wieder die einzigartige Stille der gewaltigen Berge um uns breit und zeigt uns eindrucksvoll, in welch unwegsamer, einsamer Landschaft wir uns befinden. Kurz taucht die untergehende Sonne uns noch in ein magisches Panorama, dann verschwinden wir im Zelt und das Zelt in der Dunkelheit.

Langsam merken wir doch die Strecke der letzten Tage in den Körpern. Trotz den täglichen 8 Stunden Fahrzeit, bringen wir nie mehr als 45 km hinter uns. Schon wieder klettern wir hoch auf 4900 Meter, die Landschaft können wir aber nicht mehr bestaunen. Es regnet und schneit und ohne belohnende Aussichten macht die extrem anstrengende Strecke überhaupt keinen Sinn mehr. Den Plan, morgen die große Straße zu überqueren, um weitere drei Wochen über die Berge nach Huaraz zu holpern, streichen wir kurzerhand. Eine Woche Regen sagt der Wetterbericht voraus. Also rollen wir hinein in das absolute Kontrastprogramm, die 'Carretera Central' hinunter bis in die Hauptstadt Lima. 120 Kilometer bergab.

Die Carretera Central, beeindruckend in die Berge gehauen, dominiert alles und durchschneidet rücksichtslos Ortschaften. Alles Leben ist der Straße untergeordnet. Menschen fristen ihr Dasein in Bretterbuden am Straßenrand, das Grundstück ein schlammiges Etwas. Hunderte Familien wohnen in diesen Autowasch-Buden, im Dreck findet das ganz normale Familienleben statt: entspannen auf der Couch, Wäsche waschen, kochen und das ewige Warten darauf, dass sich ein Kunde zwischen all der Konkurrenz ausgerechnet für den eigenen Wasserschlauch entscheidet.

Je näher wir Lima kommen, desto dichter wird die Luft, bis Nebel und Wüstenstaub die Berge um uns herum unsichtbar werden lassen. Das, was noch von Landschaft erkennbar bleibt, gleicht einem Bauhof. Die Natur ist eine Ansammlung überdimensionaler Sand- und Schutthaufen. Wir sind jetzt in der trockenen Küstenwüste. Nach zweieinhalb Monaten dünner Hochgebirgsluft müsste uns jetzt auf Meereshöhe der Sauerstoff überfluten. Stattdessen kratzt die Kehle, verdreckt die Lunge, verklebt der Staub Nase und Augen und Sand knirscht zwischen den Zähnen.

 

Schaut man sich Peru von oben an, sieht man deutlich die drei Hauptlandschaften des Landes. Jede einzelne durchzieht das Land in seiner ganzen Nord-Süd-Ausdehnung. Im Osten riesiges Grün, die Selva: der Dschungel. In der Mitte ein einziger Streifen Berge: die Sierra. Hier versammeln sich weiße Berggipfel, Vulkane und fruchtbare Andentäler. Als drittes gibt es im Westen die Costa, der Wüstenstreifen entlang der Pazifikküste, in den wir gerade hineinradeln.

Im Großraum Lima lebt fast ein Drittel der Bevölkerung Perus. Warum ausgerechnet hier rund zehn Millionen Menschen wohnen, ist sicher nicht mit der Wüstenlandschaft um uns herum zu erklären. Dennoch hat die Hauptstadt selbst ein irres Bevölkerungswachstum zu verzeichnen. Lebten hier vor 70 Jahren noch knapp 850.000 Menschen, sind es heute etwa 8,5 Millionen. Lima ist quasi explodiert. Es ist die Armut, die die Menschen in die Städte treibt. Glaubt man den offiziellen Statistiken, ist die Hälfte der peruanischen Bevölkerung arm bzw. extrem arm, kann also nicht mal ihre Grundbedürfnisse decken. In den Anden liegt der Anteil an Armen noch höher bei etwa 70%. Den Eindruck haben wir hier auch bekommen. Zugang zu Wasser, ärztlicher Versorgung und Bildung gibt es an erschreckend vielen Orten nicht. An die Küste zieht es viele Menschen, denn Fortschritt und Wohlstand konzentrieren sich v.a. auf die Städte, insbesondere auf Lima.

Es aus der Armut herauszuschaffen, ist für viele dennoch kaum möglich. Die, die kommen, bauen sich eine Hütte in den vielen Elendsviertel mitten im Wüstenstaub. Informelle Siedlungen mit grottiger Infrastruktur auf trockenen Berghängen sind heute Wohnort von geschätzten zwei Dritteln der 'limeños'. Auch hier gibt es selten Wasser. Die Menschen, die am wenigsten Geld haben, müssen sich das teuerste Wasser des Landes kaufen. Das bekommen sie von privaten Händlern in Tanks gefüllt. Wasserknappheit für viele, während in der schicken Innenstadt prachtvolle Springbrunnen plätschern. In den zentralen schnieken Vierteln Miraflores und San Isidro fahren schick gekleidete Kosmopoliten mit Elektrorollern auf abgetrennten Radwegen. Niemand trägt hier einen traditionellen Hut. Es könnte jede beliebige Stadt sein, austauschbar, wenn sich da nicht Limas Markenzeichen einmischen würde: der ewig graue Himmel. Denn Lima ist aufgrund des Humboldtstromes fast ein halbes Jahr von permanentem Nebel umhüllt, der Himmel ist tagsüber grau und nachts merkwürdig gelb.


Heute holen uns Tante Charo und ihr Mann Luis ab. Die sind mit unserem Freund Gabriel entfernt verwandt und haben Lust, uns mitzunehmen und uns die Stadt zu zeigen. Jetzt bekommen wir einen Einblick in ein peruanisches Leben, wie es nur wenige führen. Die beiden nehmen uns mit nach Hause, in den Stadtteil La Molina. Wir fahren rein in eine der vielen gated communities, den Wohnorten der Reichen, umzäunt von hohen Mauern, Elektrozaun noch oben drauf, bewacht vom 24 Stunden Sicherheitsdienst. Pool im Innenhof, Kunst im Wohnzimmer. Drei Angestellte: ein Koch, eine Frau fürs Putzen und Bedienen, ein Kindermädchen. Die Gespräche sind nett, die Familie sehr herzlich. Dennoch, über allem schweben die krassen Gegensätze dieser peruanischen Lebenswelten und die extremen sozialen Ungerechtigkeiten.

Tante Charo will uns noch was von der Stadt zeigen. Also ab ins Auto. Später wissen wir: es gibt wohl keine dümmere Idee, als eine Stadtrundfahrt mit dem Auto durch Lima. Fünf Stunden stehen wir im Stau. In Lima rollt nichts! Jeder Fußgänger ist in der Stadt schneller unterwegs. Was für ein irrsinniger Verkehrswahnsinn, alles ist verstopft. In Lima das Auto zu nehmen, ist einfach vollkommen bescheuert. Aber Alternativen gibt es kaum. Bis auf eine einzige Zuglinie besteht der gesamte Nahverkehr aus Kleinbussen, Taxen, Mototaxen und Privatfahrzeugen. Aber nicht nur die Masse an Fahrzeugen, v.a. die egoistische, gegenüber anderen komplett rücksichtlose Fahrweise trägt ihren Teil dazu bei, das einfach nichts geht. Busse und Taxen halten, wann und wo sie wollen. Die Leute schieben und quetschen sich in jede Lücke. Und wenn man grün hat, fährt man natürlich mit rauf auf die volle Kreuzung, um diese dann komplett zu blockieren. Da gilt höchstens noch das Recht der dicksten Karre, denkt sich der Busfahrer, schert großzügig aus, faltet unter lautem Krachen die Beifahrertür eines schicken Neuwagens einmal nach innen und fährt weiter. Der Betroffene eingesperrt in der bereits aufgerückten Blechlawine. Und auch für den Rettungswagen wird keinen Zentimeter Platz gemacht. Der soll sich mal nicht so wichtig nehmen, wir wollen doch alle heute noch ans Ziel. „Ohne die privaten Kleinbusunternehmer könnte sich in den peruanischen Städten niemand von der Stelle bewegen“, hatten wir im Reiseführer gelesen. In Lima kann sich vor allem wegen der vielen privaten Busse und Taxen niemand bewegen. Dass der öffentliche Verkehr in Peru komplett privat abgewickelt wird, ist hier in einem unkontrollierbaren Chaos verendet. Im Sekundentakt kommen Busse und Taxen. Etliche Autos fahren sinnlos umher, in ihnen lediglich der Taxifahrer auf der Suche nach Kundschaft, der hupend auf sich aufmerksam macht. Fahrzeuge, die Hälfte davon Schrottreif, verpesten die Luft. Zu viele erhoffen sich ein Einkommen vom Taxifahren. Während Lima und New York etwa die gleiche Einwohnerzahl vorweisen, hat Lima etwa das zehnfache an Taxen auf seinen Straßen.


Uns zieht es zurück in die Berge, raus aus der grauen Stadt, die uns entweder furchtbar oder furchtbar geleckt erscheint. Aber vorher wird noch ein wenig gefeiert: Arnes zweiter Geburtstag auf dieser Reise: Mit Pisco Sour und Livemusik.

Mit dem Nachtbus fahren wir zurück in die Anden. Kaum sind wir in Huaraz - sind die Hüte wieder da, aber in der für die Region typischer, anderer Form: eine Mischung aus Hexenhut und Zylinder. Im Hintergrund der Stadt ragen die weißen Gipfel der Cordillera Blanca empor: eine imposante Gebirgskette mit mehr als fünfzig Bergen über fünfeinhalb Tausend Meter. Hier sammelt sich ein Großteil der peruanischen Gletschermasse. So wie in allen Gebirgen der Welt verschwinden auch hier die Gletscher, allerdings ist die landesweite Wasserversorgung Perus in besonderem Maße abhängig von seinen Gletschern. Bereits jetzt hat sich das Klima hier verändert: Trockenzeiten sind länger geworden, Regenzeiten heftiger. Dass die Gletscher mal größer waren, kann man von Weitem gut erkennen. Die Tragödie, die dem Land durch das Verschwinden der Gletscher bevorsteht und das damit einhergehende Versieden der Wasserquellen, die können wir uns jedoch gar nicht vorstellen. Jetzt geht so langsam die Regenzeit los und nachmittags verschwinden die gewaltigen weißen Berge in den grauen Wolken. Manchmal sticht ein Gipfel aus dem Wolkenknäuel empor, in einer Höhe, in der wir ihn nicht erwartet hätten. Wir radeln nicht durch trockene Hochgebirgslandschaft, sondern etwas tiefer vorbei an den vielen Feldern, die noch mit dem Wasser der Anden gespeist werden können. Auch hier wird gerade per Hand gedrescht. In den frühen Morgenstunden dringen die Hahnenschreie in unser Zelt.

In der Entenschlucht, im 'Cañon del Pato', hinter Caraz, ragen die Felswände so steil nach oben, dass an Anbau nicht mehr zu denken ist. Trockene, senkrechte Felswüste, eine tiefe Schlucht, ein reißender Fluss. Immer wieder stürzen sich Wasserfälle hinab, die aus großen Löchern in den Felswänden herausschießen. Wir rollen durch etliche kurze Tunnel, hinein in schwarze Löcher. Eine Strecke für den Fahrradhelm, so viele Steine, die es hier schon auf die Straße geregnet hat. An den Hängen kraxeln sich Menschen Wege hinauf, wo wir niemals Wege vermuten würden. Auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses tipselt jemand die senkrecht aussehende Wand nach unten. Im Dunkeln brennt ein Lagerfeuer hunderte Meter über uns. Zerfallene Häuser am Straßenrand. Orte, in die man nicht hinzieht, sondern in denen man geboren wird. Und für die sich keiner sonst zu interessieren scheint. Auch hier wird die Müllentsorgung eigenhändig übernommen: den Abhang runter in den Fluss. In den Dorfläden werden die Angebote immer spärliche. Oft stehen nur ein paar Sixpacks Brause auf dem Betonboden, manchmal gibt es Kekse. Bei Theodora sogar Eis, gefrorener Saft in kleinen Plastiktüten. Den Müll? Ja den werft einfach auf die Straße, sagt uns die alte Frau. Nur selten wird die Tristesse abgelöst an kleinen fruchtbaren Ebenen und Bergbachmündungen. Dann mischen sich Ananas, Mangobäume und Papayas in die Landschaft.

Am río tablachaca ist Goldgräberstimmung. Im trockenen Teil des steinigen Flussbettes stehen zusammengezimmerte Bretterbuden. Über den Fluss kommt man hier nur mit den vielen Seilbahnen – eine kleine Gondel, mit der man über den Wasserstrom hinwegschaukelt. Unten stehen Männer, schaufeln Sand aus dem Fluss, laden ihn auf ein Wellblech ab. Ein kleiner umgeleiteter Wasserstrom fließt über das Blech und spült den Sand langsam weg, die Augen des Mannes konzentriert und nach Gold suchend. In Dauerschleife holt sich der Goldsieber die schweren Ladungen Sand, lädt geduldig und in rückenzerstörender Haltung den möglichen Schatz ab. Goldrausch und Gar Nichts liegen hier nahe beieinander. Ab und zu knallt es im Flusstal. Irgendwo hat jemand wieder Dynamit gezündet. Wer nicht auf der Suche nach Gold ist, verschwindet in den vielen Minen, den kleinen Löchern im Berg. Aus schwarzen, engen Schächten wird Kohle herausgeholt. Das Weiß der Augen leuchtet in den schwarzen Gesichtern der 'mineros'. Vereinzelte Hütten stehen an Kanten und Abhängen. Schwarz. Dreckig. Und drumherum nichts anderes als Steine. Bald werden aus den Zwei-Mann-Schubkarren-Minen Bagger und Laster für den Abbau im Großen Stil. Form und Farbe des Flusses sind erschreckend und brutal verändert. Kleine, zu vernachlässigende Folgen des Bergbaus.

Auch wenn die Landschaft immer wieder anders aussieht, eine Konstante gibt es in Peru: es geht immer hoch und runter. Ein Glück, dass wir die Serpentine da drüben nicht hoch müssen, denken wir noch, bis wir schließlich irgendwann von noch weiter oben auf eben jene herabschauen. 65 Kilometer- das Ergebnis von zehn Stunden reiner Fahr- und Schiebezeit heute. Minendreck und Geröll sind nun aber grünen Wiesen, Eucalyptus, Kühen und Schweinen und idyllischen Dörfern gewichen: Mollepata, Mollebamba, Cachicadan. Häuser sind wieder aus Lehm und Eucalyptusholz. Hier, wo die Menschen so wenig haben, wird mit dem gebaut, was das Land drumherum anbietet. Die selbstgeformten Lehmziegel werden acht Tage in der Sonne trocknen, bevor sie verwendet werden können. Die Menschen sind auffällig nett hier. Die Straßenbauer Hector und Pedro stoppen ihren Laster, um mit uns Selfies zu machen. Wir heißen jetzt nur noch 'Gringo' und 'Gringa', sind einfach die Weißen, in dem Land, in dem so viel von der Hautfarbe abhängig ist. Gringito und Gringita- liebevoll gemeint. Es gibt einen Kniff in die Wange, ein Küsschen- die alte Bäuerin ist entzückt von den ersten Ausländern ihres Lebens. Wenn wir gefragt werden, woher wir kommen und wohin wir wollen, wird ungläubig der Kopf geschüttelt. „Ihr erzählt mir von Orten, die ich nicht kenne.“, heißt es da, auch wenn es um die nächste, große Stadt in 200km geht. Kinder schreien uns „hola“ hinterher. Frauen sitzen und spinnen. Wie Zuckerwatte sehen die aufgespießten Wollebausche in den Händen der Frauen aus, in der anderen Hand dreht sich unentwegt die Spindel. Überall wird gestrickt: nicht selten im Gehen. So auch die junge Frau, die, mit Baby im Tragtuch, strickend ihre Schafe vorantreibt. Frisches Brot gibt es nun dort, wo die weiße Fahne draußen hängt Bepackte Esel werden durch die Dörfer getrieben. Roberto, Rosa und Tereza beladen gerade ihre Esel mit Futter für Hasen und Meerschweinchen. Roberto genießt die Berge, die Landschaft und die Natur. Nicht so viel „kontamination“ wie in Lima, meint er.

In den ewig laufenden Flimmerkisten der kleinen Mittagsläden starren die Leute auf die wohl beliebteste Sendung Perus “Esto es guerra“ („Das ist Krieg“), der Schrottfernsehsendung, in der sich zwei Teams halbnackter Menschen durch Hindernisparcoure kämpfen. Die „Nachrichten“ sind gefüllt von Stimmungsmache gegen venezolanische Flüchtlinge. Dass gerade der Kongress aufgelöst wurde und dieser daraufhin den Präsidenten des Amtes entheben will- das sehen wir hier nicht und es scheint auch recht wenig zu interessieren. Die Leute haben Selbst-Genug-Um-Die-Ohren oder einfach schlichtweg den Glauben an die Politik verloren Schaut man sich allein die Präsidenten der letzten 20 Jahre im korruptionsverseuchten Peru an, verwundert das nicht. Fujimori (1990-2000 Präsident): zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt wegen Verbrechen gegen die Menschenrechte und Korruption. Toledo, von 2001 bis 2006 im Amt, seit diesem Sommer (2019) in Haft. Er soll u.a. 20 Millionen Dollar Schmiergeld angenommen haben. Sein Nachfolger Alan García, Staatsoberhaupt von 2006-2011, auch er sollte dieses Jahr zu Korruptionsskandalen aussagen, hat sich jedoch vor seiner Verhaftung das Leben genommen. Expräsident Humala (2011-2016) stellte sich 2017, ebenfalls aufgrund von Korruption angeklagt. Der letzte Präsident Kuczynski trat nach zwei Jahren Präsidentschaft vorzeitig zurück und befindet sich gerade in Hausarrest, auch er dieses Jahr wegen Bestechlichkeit verhaftet. Aktuell ist Vizcarra im Amt. Er verspricht den Kampf gegen die Korruption. Immerhin wurden bereits allein drei Präsidenten der kurzen, eben aufgezählten Liste dieses Jahr angeklagt. Und jetzt gipfelt in Lima der Streit zwischen Vizcarra und dem Kongress in der Auflösung des Kongresses durch den Präsidenten und der Kongress seinerseits will daraufhin den Präsidenten suspendieren. Und warum der Streit? Der Kongress wollte neue Richter einsetzen, die korrupte Kongressmitglieder schützen sollen, statt den Kampf gegen die Korruption zu unterstützen.

 

Für die Bekämpfung der vielen Umweltprobleme Perus werden Gelder in Schilder investiert, die überall in der Landschaft herumstehen. „Verschmutze nicht die Flüsse!“ heißt es dort, wo die Mine ihren Dreck in den Fluss leitet oder die Menschen ihre Wäsche waschen. Aber wo sollen die Leute auch ihre Wäsche waschen, wenn sie keinen Wasseranschluss und kein Abwasser haben? „Kümmere dich um deine Umwelt!“ oder „Schmeiße keinen Müll weg!“ steht dort, wo Menschen ihren Müll abladen. Aber wo sollen die Leute denn auch hin mit ihrem Müll, wenn es überhaupt kein Müllentsorgungssystem gibt? Wäre vielleicht sinnvoller, das verschwendete Schildergeld in den Ausbau der Infrastruktur zu investieren. Aber bei den immensen Kosten dafür bliebe wohl nicht mehr genug für die eigene Tasche übrig. Ob sich daran was ändern wird? Was bringen Hut- und Spatenpartei und die vielen Politiker, die auf dem Land für sich werben? Raquel ist da pessimistisch. Die Politiker, sagt sie, kämen nur einmal vor der Wahl in die Bergdörfer und sammelten sich Wählerstimmen mit Freibier, um sich danach nie wieder blicken zu lassen. Wir radeln weiter, vorbei an den vielen Wahlwerbungen. Kaum ein Haus an der einspurigen Hauptstraße ist hier noch lehmfarben, alle sind bepinselt. Vielleicht reißt ja „Juan, der Freund aller Peruaner“ das Ruder rum oder doch lieber „Gonzalo, dein Freund“ ? Vielleicht machen aber auch am Ende Lenin oder Hitler das Rennen.

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