Peru - Hóla Mamita


Hörend mitradeln:


Die Fahnenstangen sind leer am Nordufer des tiefblauen Titicacasee. Der Länderübergang ist nahezu unsichtbar. Lediglich die Straße markiert jetzt einen Wechsel: der Schotterweg endet, eine frisch asphaltierte Straße beginnt, schlängelt sich in Serpentinen hinab bis in das erste peruanische Dorf zur Einreisekontrolle. Während der Grenzbeamte unsere Daten in den Computer tippt, dehnen wir unsere Radlerbeine. Der Fernseher läuft. Der Stempel kracht in den Pass. Drei Monate dürfen wir in Peru bleiben. 

Es sieht anders aus am Titicacasee. Nach den vielen trockenen Ebenen der letzten Wochen sind wir jetzt in einem fruchtbaren, hügeligen Landstrich unterwegs. Der gigantische See in 3800 m Höhe ist beinahe 180 km lang und versorgt die ganze Umgebung mit Wasser. Eucalyptusbäume am Straßenrand rauschen und durchfluten die sonnendurchsetzte Luft mit ihren Aromen. Die Felder sind jetzt, im Winter, abgeerntet. Stroh ist zu Büscheln zusammengepfercht. Ein altes Paar drescht gemeinsam von Hand: er durchwühlt mit der Forke den Getreidehaufen, sie drescht mit einem Stock darauf ein. Menschen lockern mit schweren, museumsreifen Hacken den Feldboden. Abuela und Abuelo ziehen mit Rind zu ihrem Acker. Unterm Arm des alten Mannes klemmt der große, selbstgeschnitzt wirkende,  Holzpflug. Hier existieren Tierpflüge und Traktoren gleichzeitig, wobei nicht klar ist, ob das eine das andere wirklich ablösen wird. Frauen stehen in Rock und Wollstrumpfhose auf dem Acker, auf dem Kopf der Melonenhut. Die traditionelle Kleidung ist hier in Farbe und Form schlichter als in Bolivien und verleiht den Bäuerinnen Eleganz inmitten von Erde und Tieren. Jede Familie bildet hier eine kleine Einheit, besitzt ein Stück Land, Schweine, Kühe und Schafe. Lämmer und Ferkel mischen sich darunter. Rund um den See befinden sich etliche, kleine Bauernhöfe. Häuser und Mauern sind aus Lehmziegeln gebaut. Viel verändert der Länderwechsel nicht, dennoch wirken die Dörfer jetzt ein wenig mehr zurechtgemacht. Zur Straße hin sind die Lehmhäuser oft verputzt und gestrichen, wenn auch schon ein wenig bröckelig. In den Orten werden Kirchen aus Kolonialzeiten von Gras bewuchert. Obwohl wir in Bolivien noch vor den Menschen „hinter der Grenze“ gewarnt wurden, sind die Leute in Peru um einiges lächel- und  grußfreudiger. 

Immer noch radeln wir entlang des Titicacasee. Der wirkt wie ein Meer, deren anderes Ufer nicht mehr auszumachen ist. Über 15 mal würde der Bodensee hineinpassen. Am Nordufer ist nichts los auf der glatten und tiefblauen Wasserfläche. Touristenboote und bolivianische Marineschiffe schippern woanders lang. Hier dümpelt höchstens mal ein einzelnes Ruderboot rum. Gerudert wird vorwärts, für uns verkehrt herum. Die starke Verschmutzung ist dem See von hier nicht anzusehen. Aber der See ist bedroht. Abwässer gelangen ungefiltert hinein, sowohl aus bolivianischen als auch peruanischen Städten und aus den tausenden, umliegenden, oft illegalen Minen. Quecksilber, Blei und Zink vergiften das Wasser und wirklichen Umweltschutz gibt es nicht. Die ohnehin in den Anden immer knapper werdende Lebensgrundlage Wasser ist gefährdet.

Der Weg nach Juliaca führt laut Karte durch einen grünen Nationalpark. Tatsächlich jedoch folgen wir einer öden Straße durch gelbbraune Weite und Viehland. Orte werden mülliger, der Verkehr dichter. Es mischt sich der Geruch von Verwesung in die Luft: aufgeblähte, übelriechende Hunde im Straßengraben. Juliaca vertreibt endgültig die dörfliche Idylle. Repräsentativ versammelt die erste Stadt alles, was es für eine hässliche, peruanische Stadt braucht: kaum ein Haus, aus dem nicht oben die Betonstahlstäbe herausstehen. Alles scheint noch im Bau zu sein. In einer Seitenstraße quillt stinkendes Abwasser an die Oberfläche. Die Luft ist staubig schlecht. Müllecken verteilen sich quer in der Stadt. Hauptstraßen sind zu Stoßzeiten verstopft. Dann staut sich der Verkehr einer Millionenmetropole in der 270.000 Einwohnerstadt. Über die Maßen viele Kleinbusse und Taxen stecken fest. TukTuks, die hier „motos“ heißen, suchen Kundschaft. Taxifahrer sind dem Glauben verfallen, sie würden mehr Menschen auf den Gedanken bringen, in ein Taxi zu steigen, in dem sie unentwegt durch die Gegend fahren und Fußgänger anhupen. Dazwischen strampelt die veraltete Generation der Fahrradrikscha-Fahrer. Auf den roten Kunstledersitzen prangt Che Guevara. Es ist laut. In das Gewusel mischen sich wieder megafon-bestückte Wagen, die uns an China erinnern. Schrotthändler und Essensverkäufer mit überdimensionierten Lautsprechern. Hier wird oft sogar live ins Mikro gesprochen, geschnarrt, gepfiffen oder gesungen. Jeder hat seinen eigenen Klang mit Wiedererkennungswert. Weit über der Stadt breitet ‚Cristo Blanco‘ seine heiligen Arme aus- jede kleinere Stadt in Peru hat ihren persönlichen Jesus. 

Rosen und Hollywoodschaukel des Innenhofs der Casa de Ciclista lassen die Stadt jedoch draußen. „Radio escuchando“ - Giovannis Küchenradio tut sein Übriges und bringt Salsa-Musik an den Frühstückstisch. Die Sonne knallt in den Hof und bringt Sommerstimmung mit - endlich T-Shirt-Wetter. Vormittags wird Wäsche gewaschen in der Casa, bevor am Nachmittag wieder das Wasser  abgestellt ist. Jeden Tag verschwindet das Wasser für mehrere Stunden, nicht nur in Juliaca, sondern nahezu überall im Land.

In Peru bezahlen wir in 'Soles', was von Google gerne mit „Schuhsohlen“ übersetzt wird.  Zwischen dreieinhalb und fünf Sohlen zahlen wir für die billigen Mittagsmenüs: Sopa, Segunda und Getränk für etwa ein bis anderthalb Euro. Die Töpfe in den Billigküchen sind so groß, dass man sich drin baden könnte. In den Essensbuden läuft fast immer der Fernseher. Und warum unterscheidet man hier in Desayuno, Almuerzo und Cena, wenn doch zu allen Tageszeiten die gleichen Gerichte angeboten werden?  Dennoch ist die Essensauswahl bunter geworden und ‚vegetariano‘ hier kein Fremdwort mehr. 'Arroz a la Cubana' oder 'Arroz con Lentejas' gehen zumindest immer irgendwo. Unsere Campingtöpfe bleiben ab jetzt meist in der Packtasche.

 

Wir verlassen Juliaca. Die Berge rücken Tag für Tag näher an uns heran, bis die Ebene des Altiplano schließlich verschwunden ist und wir wieder in den Bergen sind, nicht mehr einfach oben drauf. In der Morgenkühle der Andenkleinstädte und -dörfer versorgen wir uns mit Palta-Avocado-Brötchen und warmen Matschgetränken aus Quinoa, Lila Mais oder der Macawurzel. Verkauft wird von den kleinen blauen Holz-Wägelchen oder vom Lastenrad-Imbiss. Viele haben aus ihrem Lastenrad gleich ein mobiles Straßenrestaurant gemacht, Bretter als Tische angeschraubt und Pastikhöckerchen davorgestellt. Wir schnacken mit den redseligen Verkäuferinnen. Und auf den Schildern der Straßenrestaurants steht jetzt auch ein neues Gericht: hier kann man cuy, Meerschweinchen, essen. Heute findet wieder ein Straßenumzug statt. Ständig vernehmen wir die Musik der vielen Schülerkapellen. Auf den Straßen tummeln sich immer mehr verschiedene Hutformen und -farben zu den klassischen Melonen. Peru ist das Hut- und Mützenland schlechthin. Kaum ein Kopf in den Anden ist unbedeckt. Während die Männer hier oft bunte Strickmützen mit Ohrenklappen und Bommeln aufsetzen, ist auf den Frauenköpfen eine weitaus größere Variation an Kopfbedeckungen zu finden. Dreißig Zentimeter hohe, weiße Zylinder. Hüte mit schlaffer oder steifer, großer oder kleiner Krempe. Aus Filz, Leder oder einfach ein Strohhut. Mit oder ohne Schleife. Bei manchen Hüten stecken sogar echte Blumen im Band. Einige der traditionell gekleideten Frauen tragen eine Arte Platte auf dem Kopf mit buntem, überlappendem Stoff darauf. Mittels Perlenriemen ist diese Konstruktion am Hals befestigt. Die sitzenden Damen sehen aus wie runde Beistelltische mit buntem Tischtuch drauf. Kopfbewegungen werden durch diese Plattenhüte vergrößert und wirken äußerst komisch. Unpraktisch rutschen die platten Scheiben den Frauen bei Wind in den Nacken. Am schönsten bleiben die eleganten, zu kleinen Melonen, die weit oben auf der Frisur sitzen. In schlichten Tönen, grau, schwarz und braun. An manchen ist seitlich eine elegante Bommel befestigt.

Weiterradeln in Richtung Cusco. Im Fluss waschen Männer Autos und Frauen Wäsche, Seifenschaum fließt durch die Landschaft. Wasser wird hier überall verschmutzt. Vermutlich fehlt es vielen an Bildung, v.a. aber fehlt es schlichtweg an Infrastruktur. Viele Haushalte sind überhaupt nicht ans Wasser- und Abwassernetz angeschlossen. Die Tage sind sommerlich warm. Der trockene Geruch von Stroh liegt in der Luft. Das Gras verpasst der Landschaft einen Gelbstich. Lamas werden von ihren kleineren Teddybärenvarianten, den Alpakas, abgelöst. Die sind gedrungener, die Wolle ist überall bauschig dicht und auf dem Kopf richtig wuschelig. Verlassene Lehmhäuser fallen langsam in sich zusammen und werden in einigen Jahren wieder vollends Bestandteil der Natur sein. Neue Häuser werden gebaut, Platz ist ja genug. In der Sonne trocknen selbstgeformte Lehmziegel. Ob Menschen zu Hause sind, lässt sich nicht daran erkennen, ob ein Auto vor der Tür steht, denn kaum jemand besitzt ein eigenes Fahrzeug. Wenn doch, ist es nicht selten ein VW Käfer, in Lateinamerika wurden sie weitaus länger produziert als bei uns. Die meisten Leute jedoch müssen zur Hauptstraße rennen, damit sie den Collectivo-Kleinbus noch bekommen. Der Türöffner und Abkassierer treibt die Menschen an „Corre, Corre Mamita!“, ruft er der Frau entgegen. Der öffentliche Verkehr wird von den vielen privaten Busunternehmen und Taxifahrern abgewickelt. Mauern und Häuser sind auch in Peru mit Namen bepinselt: JORGE oder EDWIN steht dran in bunten Großbuchstaben. Daneben sind die Parteisymbole aufgemalt: Inkakopf, Schaufel oder Wassertropfen, Hühnchen und Fußball? Oder sind das Wahlziele, bildlich erklärt für die analphabetische Bevölkerung? Immerhin muss ja jeder zur Wahl gehen, sonst droht Strafe. Teils stammt die platte Wahlwerbung noch aus der letzten Wahlperiode.

Cusco begrüßt uns mit peruanischem Verkehrschaos, stickiger Luft und einer weiteren Umzugsparade: schon wieder gibt es was zu feiern. Die historische Innenstadt hat mit dem äußeren Cusco nichts zu tun. Das Stadtbild ist ein komplett anderes: Straßenschilder und Ampeln sind stilvoll verziert, die Altstadt ist geprägt von Kolonialgebäuden und Kopfsteinpflaster. Pflastersteine sind zum ausrutschen glatt, wirken wie blank poliert und quietschen unter den Autoreifen. Lehmhäuser sind weiß gestrichen, die blauen Holzbalkone und Fensterläden aus der Zeit der spanischen Besetzung sind schöne Farbflecken in den alten Gassen. Rote Dachziegel sind schon lange auf den Dächern und mittlerweile angelaufen. In die Gassen mischen sich Mauerwerke aus Inkazeiten. Die Inkahauptstadt in den Anden versammelt augenscheinlich alle Touristen Perus in sich. Für uns ist Cusco vor allem eins: Touristenhauptstadt. Alle paar Meter wedeln Menschen mit einem Restaurantmenü vor unserer Nase herum, bieten uns Touren oder Massagen an. Die traditionelle Kleidung ist jetzt zu einem Kostüm verkommen. Verkleidete ‚Indigenas‘ bringen Alpakas in die Innenstadt und halten den ganzen Tag lang kleine Lämmchen auf dem Arm, lassen sich für ein paar Soles fotografieren. Die Innenstadt besteht aus Restaurants, Hotels und Alpaka-Boutiquen. Augenscheinlich wohnen hier im alten Zentrum kaum noch Einheimische. 

Dennoch versteckt sich hier einiges an Geschichte in den Mauern und Gebäuden der Stadt, dem damaligen Machtzentrum des Inka-Reiches, dem „Nabel der Welt“, wie die Inka ihre Hauptstadt nannten, wenn diese Welt auch lediglich vom südlichen Kolumbien bis in den Norden Chiles und Argentiniens reichte. Dennoch: die Ausdehnung dieses Großreiches im präkolumbischen Amerika war enorm, um 1500 lebten etwa zwölf Millionen Menschen im Gebiet der Inka. Die Inka schafften ein riesiges Straßen- und Wegenetz, bauten eine 5000 km lange Andenstraße. Berühmt sind ihre landwirtschaftlichen Fähigkeiten. Landwirtschaft wurde klug betrieben und erforscht, möglichst ohne Raubbau an der Natur. Viele der peruanischen Berghänge sehen immer noch waschbrettartig aus, auch wenn die meisten Terassenhänge mittlerweile erodiert sind. Ein großes Kulturzentrum der Welt- berühmt sind die Inka auch für ihre Textilien, ihre Knotenschrift und für das viele Gold. Und genau das weckte die Gier der Spanier, die 1532 mit einer kleinen Gruppe über die Anden marschierten. Sie empfahlen dem Inkaherrscher, der sie bei sich empfing, Folgendes: Da sie Repräsentanten der Spanischen Krone seien, solle man sich ihnen besser unterwerfen und dazu ihren Glauben annehmen. So ziemlich die Methode, mit denen die Inka selbst sich die verschiedenen Andenvölker zu Untertahnen gemacht haben.  Der Inkakönig lehnte ab. Nur dass an dieser Stelle der Geschichte jetzt die den Inka noch unbekannte Wirkung von Schwertern und Metallwaffen hinzukommt. Innerhalb einer halben Stunde sind die Männer von Atahualpa abgemetzelt und Pizarro und seine unter 200 Mann starke Truppe hat das Reich übernommen. Die 300 Jahre andauernde spanische Herrschaft, die Ausbeutung und die Plünderei beginnen. Alles Gold und Silber wird zu handlichen Barren verschmolzen, tonnenweise Gold wird nach Spanien verschifft. Das wenige Gold, was hier gelassen wurde, kam in die neu errichteten, prunkvollen Kirchen. Innerhalb von 100 Jahren schrumpfte die indigene und von den Spaniern enthumanisierte Bevölkerung von zwölf Millionen auf etwa 600.000 Menschen. Häuser und Mauern wurden größtenteils zerstört, lediglich Mauerreste sind heute noch vorhanden. Viele der Lehmhäuser sind auf die Mauerreste aufgebaut. Heute werden die Mauern der Inka bewundert. Nahezu übergangslos schmiegen sich die exakt behauenen, verschieden großen und unterschiedlich geformten Steine der alten Inkamauern aneinader. So präzise wurden sie bearbeitet, dass zwischen den Steinen nicht mal mehr ein Blatt Papier geschoben werden kann, nichts passt in die engen Fugen. Die Zeiten der Inka und der Spanier sind vorüber, hier in Cusco werden sie beide in Architektur lebendig. Beide unterdrückten und unterwarfen die Bevölkerung. Letztere hinterließen ein ausgebeutetes und armes Land. Überbleibsel und Reste von Perus Geschichte. Wir haben aber schnell genug von den Mauern, insbesondere hier, wo der Tourismus so abstruse Züge angenommen hat und für alles und jedes astronomische Eintrittspreise verlangt werden.

Wir packen Zelt und Rucksäcke und sitzen im Bus. Wir ersetzen Machu Picchu durch einen Ausflug zu Bergseen und Andengletschern und wandern drei Tage um den über 6000 m hohen Ausangate Berg herum. Rau und schön zugleich ist diese Landschaft: Bäche plätschern durch die Kargheit, Gletscherseen leuchten türkis, andere spiegeln die große Schneekuppe des Ausangate. Viscachas hüpfen flink über Steine davon. Obwohl wir jetzt schon so lange in den Anden sind, geht uns bei 5200 m dann doch ein wenig die Puste aus. Allabendlich bleiben tiefgraue Wolken am Berg hängen. 

Wir holen unsere Räder in Cusco ab. Unser Hostel-Opa legt die Holzbohle auf die Stufen, wir verlassen unsere Radlerhospedaje, lassen die Radler aus Schweden, Südafrika und der Schweiz zurück. Die Sagoschen sind wieder gepackt- jetzt nur keinen Platti bekommen! Wir überqueren die Müllgrenze und erreichen wieder 'Localcity'. Bellende Hunde, Straßendreck und Müllhänge sind zurück. Ebenso die sexy sexistischen Autowäschereien, auf deren Plakaten sich eingeschäumte Frauen im Stringtanga räkeln. Die Realität hier in den Muchtelbuden hat mit den Plakaten allerdings nicht viel gemein. Kaum unterwegs, hetzen uns wieder die Hunde hinterher. Täglich müssen wir mehrmals anhalten, um uns die ätzenden Köter vom Leib zu halten. Peru ist ein echt beschissenes Hundeland, allerdings ist unser Umgang mit den Hunden anders geworden. Angstmomente gibt es nicht mehr, die Köter können wir einschätzen. Wir wissen, dass die Kläffer, sobald man anhält, zurückweichen. Wenn nicht, gibt‘s halt mal nen Stein rübergefeuert. Trotzdem, das ständige Anhalten ist nervig, aber leider notwendig. Zwei andere Radler haben wir schon getroffen, die in Peru gebissen worden sind.

 

Wir radeln in Richtung Maras, zu der höchstgelegen Salzfarm der Welt. Seit Vorinkazeit wird hier eine salzhaltige Quelle von den Salzbauern genutzt, das Wasser über Kanäle in verschiedene Salzbecken geleitet. Dort verdunstet es und lässt das Salz zurück. Ein ganzer Berghang voller Salzfelder in den verschieden Farben zwischen braun und weiß, je nachdem, wie viel Wasser schon verdunstet ist. An den Kanälen lagern sich dicke Salzkrusten. Jede Salinero-Familie kümmert sich um ihre wenigen Becken: Reinigen, Pflegen, Ernten in der starken Höhensonne. Und verdient kaum etwas mit dem Salz: Gewinn machen diejenigen, die das „Inkasalz aus Maras" weiterverkaufen.

Es gibt jetzt nur noch zwei Varianten für uns: Hinauf oder Hinab. Die Strecke spielt verrückt. Das Höhenprofil ist brutal. 2000 m rauf, 2000 m runter, 1800 m rauf und runter, wieder hoch auf 4500m. Die Landschaft ist in Peru wie zusammengestaucht. Die Anden gleichen ab hier einer Ziehharmonika- mindestens bis zu ecuadorianischen Grenze und die ist noch etwa zweieinhalb Tausend Kilometer entfernt. Langsame Anstiege über zwei Tage hinweg. Von oben sieht die Straße wie eine kurvige Rennstrecke aus. Die Steigung erkennt man aus der Vogelperspektive nicht. Und dann lassen wir es einfach 60km rollen, die Serpentinenabfahrten hinunter- bis aus der Hochgebirgskargkeit ein fruchtbares Tal geworden ist. Das Klima verändert sich, unten bei Wärme und Luftfeuchtigkeit wachsen bunte Blumen. Mangos, Bananen, Papayas, Mandarinen und Avocados sind gerade reif und türmen sich auf den Straßenständen. Es wechseln sich museumsreife Lehmhäuser-Dörfchen ab mit hässlichen, dreckigen Kleinstädten.

Peru wird, durch die vielen Berge, einfach zu groß für uns. Wir müssen irgendwo etwas kürzen, denn das ‚normale‘  Verhältnis Strecke-Zeit-Kraftaufwand gerät durcheinander. Die Tipps der anderen Radler im Kopf, streichen wir die lange Strecke zwischen Abancay über Ayacucho nach Huancayo. 650 km über die Berge. Das sind mindestens 15 Stunden zerstückelte Busfahrt. Die Ladies der Busfirmen schreien potentielle Kunden aus ihren Verkaufshäuschen heraus an, übertönen nicht nur sich gegenseitig mit Haltezielen und Preisen, sondern die ganze Wartehalle. Die Räder landen unter dem Gepäcknetz des Kleinbusdaches. Die Mukke wird aufgedreht. An den Geschwindigkeitshuckeln und Baustellen der Landstraße positionieren sich die vielen Verkäuferinnen: bunter Wackelpudding in Plastikbechern und Popcorn. Nach Wackelpudding ist mir bei der ruppigen peruanischen Fahrweise im Gebirge jetzt allerdings ganz und gar nicht. 

Ayacuchos Innenstadt. Etliche historische Kathedralen und Kirchen mit Namen wie „Santo Domingo“ und „San Francisco“ aus dem 16. und 17. Jahrhundert mischen sich zwischen alte Straßenzüge. Arkaden- und Bogengänge der Kolonialbauten rund um den zentralen Plaza. Lehmhäuser sind verputzt, die warmen Farben blättern ab. Rote Dachziegel. Dunkle, schwere Holztüren. Balkone sind zu klein für einen Stuhl, aber zu groß, um sich französisch zu nennen. Auf kleinen Plätzen mit Springbrunnen sitzen Leute und schlecken Eis. Die schöne Altstadt ist bewohnt und lebendig. Man geht zur Arbeit oder zu Uni. In den historischen Häuschen befinden sich Eiscafés und Handyläden. Im Eingang des Tante-Emma-Tiendas dampfen Töpfe voller Milchreis und Maisbrei. Rollende Werbung fährt durch die Stadt. Dieser Lautsprecher kündigt Preis und Uhrzeit der heutigen Zirkusvorstellung an. Ein anderer verkauft leckere gefüllte Tamale. Auf der Plaza wirbeln die elegant zurechtgemachten Eisverkäuferinnen ihre Aluminiumtöpfe. Den ganzen Tag drehen sie die Töpfe voller cremig flüssiger Masse im Eiswürfelwasser. Dabei sehen die Eiskünstlerinnen aus, als würden sie den Platz beherrschen mit ihren glänzenden, fleckenlosen Rüschenkleidern und den feinen Hüten auf der schwarzen Frisur. 

Auf dem Wochenmarkt ist Sonntagsstimmung. In der 'sección comida', der Abteilung, in der man Essen geht, sind die Stühle besetzt. Spätes Frühstück nach dem Kirchgang, jetzt wird 'cafe pasado' getrunken. Bestellt wird eine Tasse heißes Wasser oder Milch, das Kaffeekonzentrat aus dem Glaskännchen gießt sich jeder nach Belieben selbst in sein Getränk

Die Markthallen in Peru sind besonders, eine in sich geschlossene Welt, nicht Teil des Straßenlebens. Unter dem Dach sitzen Gerüche fest, Geräusche hallen wider. Stände müssen nicht täglich neu aufgebaut werden, denn nachts wird zugeschlossen. Eingebaute, alte Holzregale- und Stände sind je nach Markt mal weiß, mal blau angepinselt. Die alten Einbauregale und Einrichtungen geben den Märkten eine feste Struktur. Alles hat seinen Platz. Die Hallen sind in die vielen, unterschiedlichen Bereiche eingeteilt: sección carnes (Fleisch), sección leches (Milch), sección comidas (Imbisse) oder sección frutas. 

Die Obststände sind ein Farbenparadies: gelbe Bananen in verschiedenen Größen; orangene, saftige Mangos, rote Erdbeeren; grüne, eingebeulte Chirimoyas, deren Geschmack unnatürlich süß und künstlich erscheint. Große Papayas neben Kaktusfrucht, kleine Physalis, frische Orangen, reife Ananas, aromatische Limetten, Kakis und Kirschen.  Die kleine Pepino-Melone schmeckt wie eine süße, feste Gurke. Wir probieren uns durch den peruanischen Früchtemix und bekommen meist gleich noch die heilenden Wirkungen erklärt: die stachelige, grüne Graviola helfe gegen Krebs, die Aguaje sei ganz speziell für Frauen- gut für die Hormone und schönheitsfördernd.

In der 'sección jugos' wird alles zu frischen Säften verarbeitet. Pausenlos summen hier die Mixer. Bei den 'bebidas' werden Getränke mit Kellen aus Eimern geschöpft. Es riecht vergoren. Hier kauft man 'chicha' (Maisbier) oder das alkoholfreie 'chicha morada' aus dem dunkelroten Mais. Maisprodukte sind beliebt- 'canchita' Popcorn gibt es auf jedem Markt. Humita- gatschige Maiskuchen- im Maisblatt gegart, ebenso. Den süßen peruanische Riesenmais mit den dicken Maiskörnern isst man gekocht und mit Käse dazu: 'choclo con queso'.

Die Käsefrauen streichen mit ihren Salzlakefingern auf den weißen Käseblöcken umher. Überall gibt es die gleiche Art weißen, salzigen Käse. Die runden Käsestücke mit gemauscheltem Rand stapeln sich vor und um die Käsefrauen herum. Eckige Käseblöcke sind selten, schmecken allerdings genauso.

"Hola Mamita!" Mit Mamita und Mamacita angesprochen werden, daran kann ich mich einfach nicht gewöhnen. „Cambio no tiene, Mamita?“ Leider nein, kein Kleingeld. Bereits der 20-Soles-Schein, ein wenig mehr als fünf Euro, wird verdießlich angeschaut. Jetzt muss man sich wieder auf die Suche nach Wechselgeld machen. Mit 50-Soles-Scheinen brauchen wir in manchen Märkten und Läden gar nicht erst kommen. Das typische Bild: Marktfrauen eilen umher, lassen ihre Kolleginnen die Schürzentaschen nach Cambio durchwühlen, bis irgendwo was dabei ist, und eilen schließlich zurück an ihren Stand. Jetzt gibt es Rückgeld.

Die Gerüche in der Fleischabteilung sind nur schwer auszuhalten. Die Anblicke ebenso. Die Knochensäge ist im Dauereinsatz. Hühnerköpfe- und Krallen. Hufe. Rinderzungen - endlos lang. An den Rindernasen noch der Strick, an dem das Tier vor kurzem zum Schlachter gezogen wurde. Alles wird in seine Einzelteile zerhackt. Gedärme hängen hinten überm Waschbecken. Meerschweinchen liegen enthaart und aufgespreizt zum Verkauf. Die Fleischabteilungen unterscheiden sich in den Märkten sehr in Gestank und Hygiene. In einigen tummeln sich die Straßenhunde. Manche der Hunde wohnen direkt im Carne-Paradies, schlafen vor Fleischresten oder unterm Stand. Irgendwas Leckeres werden sie hier bekommen, kleine Reste werden vom Schlachtertisch einfach auf den Boden gefegt. Dreckiges Schlachtewasser breitet sich aus. Langsam fließt die trübe Brühe über den Betonboden in Richtung Abfluss.

Ab in die riesige Kartoffelabteilung, hinein in den erdigen Geruch. Kartoffeln werden gewaschen und vom Sand befreit, der sie ansonsten alle gleich aussehen lässt. Auf den vollen Kartoffelsäcken liegen je ein paar blankpolierte Exemplare, die anzeigen, was nach dem Waschen zum Vorschein kommt. Die Farben der Schalen sind gelb, lila und schwarz. Manche sind sogar getigert. Länglich Knollen, kugelrunde oder spitz zulaufende. Insgesamt etwa 3000 Kartoffelarten gibt es in Peru. Hier auf dem Markt verkauft jeder Stand zwischen zwanzig und dreißig Sorten. Sie heißen nicht Linda und Laura, sondern „Negra“, „Nativa“ oder „Amarilla Peruana“. Drüben duften die Kräuter und Medizinstände. Büschelweise Zitronengras, Kamille und Koka. Dicke Aloevera-Arme in Eimern. Hallzugines. Nebenan gibt es die Grundlagen für heiße Matschgetränke in Pulverform: Quinoa, Lila Mais und Macawurzel. Die Langweiligen unter den Ständen, die mit den abgepackten Industiewaren, versuchen ihre Waren durch außergewöhliche Stapelkünste aufzumotzen. Sie balancieren ihre Produkte zu kleinen Türmchen: auf Reis ein Joghurtbecher, darüber quer eine Packung Spaghetti, oben drauf eine eingeschweißte Miniwurst und eine Süßigkeit.

 

In Ayacucho und Huancayo versinken wir in wuseligen Straßen und Märkten. Und manche verbringen ein ganzes Leben hier, so wie die alte Köhlerin, eine Spindel mit grauem Garn in der Hand, die hier seit 70 Jahren ihre Holzkohle verkauft.