China II - Feichang hao shi


Hörend mitradeln:


An der Hofeinfahrt wacht Herr Yang. Er hat genau im Blick, wer hier ein- und ausgeht. Treffsicher zeigt er uns den Aufgang, den wir nehmen müssen, denn er schlussfolgert logisch: Zwei Radfahrende können nur zu der einen fahrradfahrenden Ausländerin wollen. Die Dame heißt Chris, lebt seit über zwölf Jahren in China und ist Ärztin der Traditionellen Chinesischen Medizin. In Chengdu, der Hauptstadt Sichuans, wird die Wohnung von Chris zwischen der ersten und zweiten Ringstraße unser zu Hause. Eine der typischen chinesischen Wohnungen - mit Hocktoilette und Dusche zusammen. Mit den klassischen Schiebefenstern, die sich nie richtig schließen lassen. Mit dem Gitterkäfig außen vor dem Fenster, der die herunterfallende Wäsche abfängt. Keine Heizung in der Wohnung. Die harte chinesische Matratze auf dem Bett. Weit unter uns im Hof liegen Katzen auf aufgeheizten Autodächern. Neben dem Müllsammelplatz verschwindet eine dicke Ratte in die Welt unterhalb der Betonplatten.

Unten, im Erdgeschoss Chengdus, bemerken wir kaum, dass die Stadt neben uns senkrecht nach oben wächst. Es ist grün über uns. Das dichte Blätterdach der vielen Straßenbäume verdunkelt die Straße. Die "rasant wachsende Stadt", die fünf Millionen Einwohner, das "Wirtschaftszentrum Westchinas" - in den Seitenstraßen verschwindet das alles in den vielen Baumkronen. Der Blick konzentriert sich auf das Gewimmel auf Augenhöhe, auf die vielen Garküchen und die fahrenden Verkaufsstände. Auf den Ladeflächen der Minilaster ist gerade Apfel- und Mandarinensaison.

Kein Großstadtschritt- das Fußgängertempo ist auf Sonntagsspaziergang gedrosselt. Im entspannten Verkehrsgewusel leuchten die knalligen Leihfahrräder türkis, orange und gelb. Überall in der Stadt stehen die bunten Räder, ganze Bürgersteige sind versperrt. Es piept. Das Leihfahrrad wird abgeschlossen. Die Leihradradler sind so bunt wie die Räder selbst, oft sehr langsam unterwegs, den Fahrradständer noch ausgeklappt. Mönchskutten, frisch gebügeltes Businessoutfit, Alltagsklamotte oder gelber Bauarbeiterhelm. Die Beine sind merkwürdig stark angewinkelt, der Sattel viel zu tief eingestellt. Ein eigenes Fahrrad zu besitzen, ist längst aus der Mode gekommen. Die privaten Fahrräder fallen auf: farblich langweilig und am Lenker ragt die Metallstange mit dem Regenschirmknirps senkrecht wie ein Blitzableiter nach oben.

Durch die Straßen klingeln, rauf auf die große Hauptverkehrsstraße, wo das Baumgrün vom Betongrau abgelöst wird. Die Stadt ist voll den Radwegen, auf die Berliner Fahrradfahrer vergeblich warten: baulich abgetrennt vom Autoverkehr. Zwei, drei Spuren für Autofahrer, eine abgetrennte Radspur, ein separater Fußweg. Nur die Mopeds, die meistgenutzten Fahrzeuge, wurden in der Verkehrsplanung nicht beachtet. Und so teilen sich dann doch zu viele die „Zweiradspur“. Das funktioniert erstaunlich gut und weitgehend aggressionslos, denn das Prinzip des chinesischen Verkehrs ist klar: Es gilt das Recht des Stärkeren. Drängt das Auto den Roller ab, wird das als Naturgesetz akzeptiert. Wird man als Radfahrer vom Moped fast überfahren, bremst man halt und regt sich nicht darüber auf, denn die Formel ist einfach: Moped ist stärker als Fahrrad. Das System funktioniert, so lange man das Recht des Stärkeren akzeptiert und solange es alle nicht allzu eilig haben.

Ganz besonders langsam kommen die schwerfälligen, alten Lastenräder vorwärts. Die Knie müssen ordentlich leiden, der Oberkörper bewegt sich mit vor Anstrengung. Diese alten, halb verrosteten Räder in Gang zu bringen, ist ein Kraftakt. Und daher haben die meisten auch ihr Dreirad umgerüstet, stellen entspannt ihre Füße auf dem tiefen Rahmen ab, lassen die nicht mehr benötigte Kette auf dem Asphalt schleifen und den Motor für sie arbeiten. Mit dem alten großen Bremshebel kommen sie kaum noch gegen das neue flotte Tempo ihrer schweren Lastenräder an. Die wenigen, die ihr schweres Dreirad mit Körperkraft bewegen, sind fast immer sehr alt und die Knie tuen schon beim Hinschauen weh. Manchmal haben die Treter Glück, dürfen sich beim motorisierten Kollegen einhaken und sich ziehen lassen. Wir sehen jede Menge Elektrofahrzeuge, merkwürdig gestauchte Mischungen aus Mopeds, Autos und Seifenkisten.

Stadterkundung: Vorbei am marmornen Mao, davor Brunnenplätschern zu kitschiger Musik. Vorbei an fetten Einkaufsstraßen. Vorbei an kommunistischen Läden von Apple, Adidas und Co. Der liebste Schülerjob hier in der Einkaufsstraße: vor den unzähligen Klamottenläden stehen und winkend und klatschend Kundschaft anlocken.


Wir sind umzingelt von chinesischen Reisegruppen. Die zwei neuaufgelegten Altstadtstraßen haben auch in Chengdu mit Altstadt nichts zu tun, sondern sind Vergnügungsmeilen für Touristenschwärme. Hier reiht sich alles Sehenswerte aneinander: Sichuanoper, Restaurants mit den Gerichten der Region und die bekannten Ohrenputzer, die es sonst wohl kaum noch gibt in der Stadt.


Auf großen Parks und freien Flächen versammeln sich abends in der Stadt Tanzgrüppchen. Paartanz, Fächertanz, daneben Qi Gong. Und unweit davon knallen Peitschen laut auf Metall. Große Brummkreisel werden so in Schwung gehalten.

Die Kameras um uns klackern wild. Wir sind in der Aufzucht- und Forschungseinrichtung für Große Pandas, der Hauptattraktion Chengdus. Die Pandas, die weltweit nur hier in der Region vorkommen, sind Nationalsymbol Chinas. Die Aufzuchtstation ist notwendig, denn der Lebensraum der Pandas wurde durch Menscheneinfluss stark verkleinert. Hinzu kommt eine gewisse Trägheit, sich zu paaren. Das Leben eines Pandas ist schon so anstrengend genug. Der Tag ist mit Nahrungsaufnahme und Schlafen nahezu ausgefüllt. Dickbäuchig sitzend, stopfen sich die Pandas mit Bambus voll, rollen drollig hin und her und plumpsen anschließend in den langen Pandaschlaf. Und jährlich schauen ihnen um die 3,5 Millionen Besucher dabei zu.

Chris zeigt uns ihren Lieblingswochenmarkt, hinter Wohnhäusern halb versteckt: ein Farben-, Formen- und Geruchsspektakel. Die Hälfte des Gemüseangebots kennen wir gar nicht. Eine riesige Ansammlung Wurzeln und Knollen: Lotuswurzel, Burdockwurzen, Taro-Rhizome, etliche Sorten Yams, Süßkartoffeln, frischer Ingwer, unbekannte Sorten Rettich. Pilze in allen Formen, in Grau-, Weiß- und Brauntönen. Feine, fadenartige Enokipilze neben riesigen Kräuterseitlingen. Komische Kürbisse, Bittermelonen, gigantische Wintermelonen, Blütenkohl. Ganz viel Grünkrams, verschiedenste Kohlarten und Spinatsorten: Pak Choi, Poi Choi, Choi Sam, Am Choi und wie sie alle heißen. Blätter sind fleischig dick oder kunstvoll grazil. Gräser, Triebe und Stängel in allen Längen und Breiten, spitz zulaufend oder abgerundet. Am Gewürzstand mischen sich Fenchel, Zimt, Sternanis und Pfeffer unter die vielen unbekannten Gewürze. Unter der Last des riesigen Holzstößels werden Chilis zerkleinert. Rings um den großen Chilimörser beißt die Luft in den Atemwegen. Am Nachbarstand gibt es Eier in unterschiedlichsten Größen und Farben oder von etwas Pelzartigem ummantelt. Tee-Eier köcheln vor sich hin. Der Tee-Kräutersud bahnt sich seinen Weg durch die vielen kleinen Risse in der Eierschale. Aus menschengroßen Tongefäßen wird Wein abgefüllt. Die kleineren Krüge beinhalten Exotischeres wie Schlangen- oder Ameisenwein. Die Auswahl am Tofustand ist groß, gehört Dofu doch hier zu den Grundnahrungsmitteln: fest oder wabbelig weich, eingelegt oder geräuchert. Am Stand gegenüber werden Nudeln selbstgemacht. Daneben handgeflochtene Bambuskörbchen. Der Blick bleibt an den vielen fremden Küchenutensilien hängen.

In Gargeräten aus Bambus und Metall dampfen alle nur erdenklichen Varianten Teigtaschen, Knödel und Klößchen vor sich hin. Gemeinsam mit Chris durchforsten wird den kulinarischen Dschungel Chengdus. Manche Straßenzüge sind eine einzige Aneinanderreihung kleiner Restaurants und Garküchen. Überall brodelt oder dampft es. Aromaschwaden ziehen in die Nase. In einigen Restaurants hängt so viel Chilidunst in der Luft, dass es die Atemwege reizt. Jetzt bekommt jeder sein kleines Reisschälchen und ein Paar Stäbchen in die Hand. Das Essen landet in der Mitte. Dazu gibt es warmes Wasser oder Tee. Was man nicht isst, landet auf dem Tisch. Um uns herum schlürft und schmatzt es. Wir spüren die sanfte Taubheit des leicht zitronigen Sichuanpfeffers auf Zunge und Lippen. Chilischärfe treibt Schweiß ins Gesicht, bringt die Nase zum Laufen und ein Kribbeln in die Ohren.

Im daoistischen Tempel der Grünen Ziegen wird das erste Laub weggefegt, Räucherstäbchen zerfallen zu Ascheresten und die glückbringenden, bronzenen Ziegen lassen sich Nase und Beine blankstreicheln. Die Götterstatuen in ihren Glasvitrinen werden im Kurzprogramm angebetet und die Betenden haben noch einige Götter vor sich. Der Stadtlärm wird vom Grün der Tempelanlagen abgefangen und ist nur noch im Hintergrund vernehmbar. Auf den Tischen des Teegartens ist es voll: mitgebrachte Knabbereien für den ganzen Tag und Kartenspiele zwischen den Teetässchen. Vom Mönchsgesang ist im Teegarten des buddhistischen Tempels nichts mehr zu hören. Auch hier die entspannte Sonntagsstimmung bei Tee oder im vegetarischen Buffethimmel.


Bezahlt werden kann in jedem Restaurant und an jeder noch so kleinen Garküche mit WeChat, der chinesischen WhatsApp-Variante. Denn die kann praktischer Weise noch so viel mehr. Taxen und Essen bestellen, Arzttermine buchen oder eben Rechnungen bezahlen. Verknüpft direkt mit dem Bankkonto. Bargeldloses Bezahlen mittels Smartphone ist normal in ganz China. WeChat lässt sich nur installieren, wenn man der Firma Zugriff auf sämtliche Daten erlaubt. Kein Häkchen- kein WeChat. Laut der Datenschutzerklärung gibt WeChat jedoch fast alle Informationen an die chinesischen Behörden weiter. Wir lassen das mal besser, denn schon beim Sim-Karten-Kauf mittels Reisepass fühlen wir uns unwohl. Obwohl wir physisch in China sind, halten wir uns virtuell die kommenden Monate meistens in Los Angeles, Japan oder Hong Kong auf. Denn Google, Youtube, Whatsapp, Email, Wikipedia – nichts davon würde funktionieren ohne VPN. Die große Firewall bestimmt, was es gibt und was nicht. Also tunneln wir uns in andere Länder, um der Zensur zu umgehen und um unsere Daten verschlüsselt zu wissen.


Wir haben uns eine neue App installiert. Denn die morgendliche Frage heißt hier nicht mehr „Wie wirds Wetter?“, sondern „Wie ist die Luft?“. Heute: Luftqualitätsindex 156. Erhöhte Wahrscheinlichkeit von Nebenwirkungen und Verschlimmerung der Herzen- und Lungenfunktion. Gesundheitsempfehlungen: Fenster schließen, Freilufttraining vermeiden. Tragen Sie draußen eine Maske.

Wir verlassen Chengdu in Richtung Süden. Wo vor kurzem noch Brachland gewesen sein muss, recken sich neue Wolkenkratzerviertel in den Himmel. Die muckelig wuseligen Straßen sind verschwunden. Abgelöst von Gebilden aus Glas, Stahl und Beton, beeindruckend groß. Die geleckten Straßen sind breit, die Grünstreifen perfekt angelegt. Ein riesiger Glaskasten- das New Century Global Center- mit einer Nutzfläche von 1,7 Millionen Quadratmetern das größte Gebäude der Welt. Chengdu dehnt sich aus und mündet in gigantische Großbaustellen.

Bauland geht in Gewächshäuser über und bald schon befinden wir uns in einem einzigen Riesenbeet. Mit höchstens zwei Wochen Frost wird hier das ganze Jahr über durchgängig angebaut. Wir rollen über den erhöhten Betonplattenweg und schauen herab auf Feld- und Anbauperfektion. Gleichmäßig gemusterte Reihen Salate, Kohlköpfe, Lauchzwiebeln und Radieschen. Jedes Fleckchen dient dem Anbau. Gemüse bis unter die Leitplanke. Durch die Reihen stapfen Menschen, auf ihren Rücken die Chemie-Rucksäcke mit der Sprühdrüse. Auf anderen Rücken große, prall gefüllte Erntekörbe. Hier braucht man kein Gemüse kaufen, lediglich der kleine Fleischverkauf rollt über die Straße.

Beet grenzt an Beton. Beton an Beet. Die Übergänge zwischen Beet, Straße, Hof und Haus sind nahtlos. Es gibt faktisch keine ungenutzten 4m² für unser Nachtlager. Und da wir schlecht auf Kohl schlafen können, zeigen wir jetzt Tan unseren kleinen, handgeschriebenen Zettel mit den vielen chinesischen Zeichen: Wir sind Radreisende, wir brauchen nichts. Können wir hier im Hof unser Zelt aufstellen? Und Tan begrüßt uns mit der wunderbaren chinesischen Grußformel: "chi-fan-le-ma?" 吃饭了吗 „Hast du schon schon gegessen?“. Tan wohnt hier gemeinsam mit Mann, Sohn und ihren Eltern im Haus. Sie wohnen gerne alle unter einem Dach. Fast jeder wohne hier so auf dem Land, erklärt uns Tan. Mittels Übersetzungsapp unterhalten wir uns bei Wokgemüse und selbstgebranntem Schnaps. Der Sohn ist schüchtern, denn wir sind die ersten internationalen Gäste zu Hause. „Wann wollt ihr eure Füße waschen?“ Während drinnen alle auf dem Sofa zusammenrücken, denn es ist Samstagabend und da läuft Kung-Fu, sitzen wir unterm Vordach auf den kleinen Kinderstühlchen und nehmen ein abendliches Fußbad, so wie es hier oft zu sehen ist. „Wir Chinesen tauchen gern ein in warmes Wasser.“

Hinter Leshan verschwindet das ebene Riesenbeet und es wird bergiger. Aber auch hier müssen wir uns auf unseren Notfallzettel verlassen, denn einzig die Betonflächen vor den Häusern bieten Platz für unser Zelt. Kein Hof, kein Garten, aber auch kein Parkplatz. Was nicht Acker oder Hühnergitter ist, ist in der Regel eine betonierte Fläche zwischen dem Haus und der Straße. Kein Gartenstuhl, kein entspanntes Sitzplätzchen. Keine Zierde. Hier wird gearbeitet, getrocknet, sortiert oder meditativ gepult. Wenn schon Sitzgelegenheit, dann das schienbeinhohe Höckerchen. Und zum gemeinsamen Kartenspiel, da reicht auch eine provisorisch umgedrehte Kiste.

 

Also Betonflächenzeltplatz heute. Wieder ein Familienhaus mit mehreren Generationen. Nach dem Skeptik und Überrumpelung vergangen sind, werden für die Selfies schnell die Hauspuschen in Hackenschuhe umgetauscht. Wir werden irgendwie für lustig befunden. Die Gespräche jedoch fallen dürftig aus, denn dieses Reden über Telefon wird als kompliziert und befremdlich wahrgenommen. Wir verstehen wenig aber wir verstehen uns gut. Heiße Dusche und Essen für uns, starke Zigaretten und Fußbad für unsere Gastgeber.

Unser Betonflächenzeltplatz hat jedoch ein echtes Manko, denn jetzt, im Regenschauer, steht unser Zelt inmitten eines kleinen Sees. Wir gehen unter. Alles raus aus dem Zelt. Wir werden ins Haus reingewunken. Können ja einfach unsere Isomatten und Schlafsäcke in den Flur legen. Nein! Da könnt ihr nicht schlafen. - Kein Problem! Wir zeigen auf die Matratzen und Schlafsäcke und strecken die Daumen hoch! Aber es bleibt beim Nein! Und genau jetzt streikt das Internet. Also bleibt das Chinesisch unverständliches Chinesisch und auch mit den hingekritzelten Zeichen können wir absolut nichts anfangen. Wir brauchen eine ganze Weile, bis wir verstehen. Wir dürfen nicht gemeinsam in einem Zimmer übernachten. Ich soll mir mit der Oma ein Bett teilen und Arne bekommt ein Zimmer mit Doppelbett für sich alleine. Echt jetzt? Was draußen im Zelt überhaupt kein Problem darstellte, ist jetzt im Haus vollkommen unmöglich.

Ich bekomme den Wandplatz und krieche unter die mir zugeteilte Seite der Doppelbettdecke. Im Zimmer steht der Geruch von Feuchtigkeit. Nochmal kurz aufstehen. Leises Anklopfen bei Arne. Der Kontrollblick kommt in Puschen und Schlafanzug in den Flur, geballte Autorität auf zwei sehr kurzen Beinen. Den wachenden Blick spüre ich im Nacken, als ich nachts kurz zur Toilette husche. Ich schlafe ein, umgeben vom Fernsehflackern und den Ballergeräuschen des patriotischen Kriegsfilms.

Ich werde vom Morgenritual meiner Bettnachbarin geweckt. Sie hustet. Schleim wird geräuschvoll von ganz weit unten hochgezogen und landet im Mülleimer neben dem Bett.

Die Straße wird kleiner und wir haben jetzt täglich einen ordentlichen Anstieg vor uns. Und die Strecke hält befremdliche Anblicke für uns bereit. Vor und hinter Dörfern sehen wir merkwürdige Bündel aus Zweigen und Schuhen am Straßenrand. Von Schildern und Bäumen baumeln kuriose Knäuel aus Federn, Hörnern und Hölzern. Ein Vogel auf dem Ast entpuppt sich als tot und aufgespießt. Und an der Leitplanke sind immer wieder tote Hunde. Und jetzt, da wir uns den einen Hund genauer angucken, wird uns klar, dass hier kein toter Hund angebunden wurde, sondern ein lebendiger, der dann in dieser Position elendig verreckt ist.

Dörfer beginnen nicht mit Ortsschildern, sondern mit Müllverbrennungshäuschen. Am Straßenrand sind ständig Tiere unterwegs. Das weiße Gefieder der Gänse ist grau vom Straßenmatsch. Aufgeregt grunzende Schweine mit ihren kleinen Ferkeln halten mit uns Schritt. Andere der dicken Tiere stehen hinter Eisengittern, der Stall kaum größer als sie selbst. Wir klettern durch Nebelschleier in die Berge und die nasse Kälte kriecht in die Kleidung. Nachts schneien wir ein und der schwere Schnee drückt aufs Zelt. Nach dem Spätsommer in Chengdu sitzen hier oben in den Bergen Menschengruppen um kleine Feuer herum. Manche wärmen ihre Hände über glühenden Kohlebriketts. Den ledrigen Gesichtern sieht man das Leben auf 3000 Metern an, von der Höhensonne gefärbt. Männer rauchen lange, dünne Pfeifen, in deren Ende kleine Zigarrenstummel stecken. Handspindeln an Frauenhänden wirbeln rasant durch die Luft. Es gibt kaum einen jungen Frauenrücken, auf dem nicht ein Kinderpaket festgeschürt ist. Die vielen Billiardtische stehen vormittags unbespielt unter den Vordächern, die leeren Bierflaschen vom gestrigen Abend sind noch nicht weggeräumt.

Die Menschen sind jetzt anders gekleidet. Handtuchturbane auf Männerköpfen, geflochtene Zöpfe auf Frauenköpfen sind ineinander verschlungen oder die Haare unter einem Tuch verschwunden. Silberne Ohrringe baumeln umher. Einige trotzen dem Wetter in dunkelblauen Umhängen. Auch die Häuser sehen anders aus. Auf Hauswände sind Muster oder Alltagsmotive gemalt. Unterm Dach ist hübsch verziertes Gebälk. Die Hölzer biegen sich unter der Last der trocknenden Maiskolben. Ganze Hauswände sind Maisverhangen. Heizungen gibt es nicht in den Häusern, Kanalisation auch nicht. Auch hier kommt es vor, dass man sich das Plumpsklo synchron mit dem gleichen Geschlecht teilen muss, geräuschvolles Nebeneinander.

 

56 offiziell anerkannte Minderheiten gibt es in China. Etwa 10 Prozent der Bevölkerung gehören diesen Minoritäten an, also etwa 140 Millionen Menschen. Hier in den Bergen um Liangshan und auf dem Weg der kommenden Wochen durch Nordyunnan, Guizhou und Guanxi, fahren wir durch Dörfer der Yi, der Miao, der Bai oder der Dong. Für uns sichtbar verändern sich dann Kleidung, Kopfbedeckungen, Häuserformen und -materialien. Manchmal sehen wir eine andere Schrift oder merken, dass unsere Chinesischübersetzungen nicht verstanden werden. Auch soll es in den Gegenden besonders viele Feste geben. Vielleicht eine Erklärung, warum wir andauernd Feuerwerke hören, sogar am frühen Morgen oder im dichten Nebel. Aber wir hüten uns vor den ausgeschilderten „Nationalitätendörfern“ mit Tanzvorführungen und Dorfeintritten, in denen die Brauchtümer der Minoritäten kommerzialisiert und vermarktet werden.

Abseits der kleinen Dörfer, in tieferen und urbaneren Gegenden, sehen wir viele große neue Wohnanlagen, verziert mit klassischen Mustern. Umsiedlungsversuche der Regierung. Hauptsächlich aber sehen wir in den Orten eine Art von Haus: das übliche, chinesische Betonblockhaus. Klassisch zwei bis drei Stockwerke groß. Genügend Platz für mehrere Generationen. Die Front ist gefliest, Seitenwände sind betongrau. Das Erdgeschoss - eine Rolltorfassade. Dahinter keine Garage, sondern Garküche, kleiner Rumpelladen, Lagerfläche oder Wohnraum, manchmal auch alles zusammen.

Die Rolltorgarküche ist zu unserem liebsten Anlaufpunkt geworden an langen Radtagen. Immer ein Familienbetrieb. Hier stehen wir vor den großen, vollen Kühlschränken. Ein Gemüse = ein Gericht. Also suchen wir uns zwei Gemüsesorten aus und dann wird drauf losgehackt. Ordentlich Chili, Ingwer und Knoblauch dazu. Die Gasflamme wird auf volle Pulle gedreht und im Wok wird gebrutzelt. Dazu ein großer Bottich Reis. Jetzt stopfen wir uns voll. „Feichang hao shi“ – sehr lecker. Aber der Satz wird nicht beim ersten Mal verstanden. Die kleine Oma räumt ab und watschelt mit dem Geschirr in den Hof.

Das Radfahren wird zu einem stetigen auf und ab, um uns herum ein permanenter Wandel. Ständig verändern sich Menschen, Landschaft und Pflanzenwelt. Wir fahren an dreckigen Industrieanlagen vorbei und an Flüssen, deren Wasser wir nicht trauen. Wir zweigen auf kleine, steile Wege, die nur auf den Karten vom chinesischen Baidu verzeichnet sind. Auf unserem Kartenmaterial existieren etliche Straßen gar nicht. Wir fahren durch kleinste Dorfstraßen in idyllischer Landschaft und wir finden wieder Schlafplätze in schöner Natur. In den mediterranen hohen Nadelwäldern sind die Lehmhäuser so rot wie die Erde. Menschen sammeln hier riesige Körbe voller Kiefernadeln. Chilis trocknen auf dem Boden, an Hauswänden und auf Dächern. An blätterlosen Kakibäumen hängen die vielen orangenen Früchte. Wir radeln an beeindruckenden Schluchten entlang, blicken auf den weit unter uns liegenden Fluss oder auf riesige Solaranlagen. Große Kakteen stehen neben kleinen Gemüsebeeten. Zwischen Gräsern vereinzelt schöne Gräber. Zu Maisterassen gesellen sich Reisterassen, sogar Bananenstauden und Papayapflanzen.

 

Eben noch das Tal hinuntergesaust, geht es jetzt auf der anderen Flussseite wieder bergauf. Je höher wir kommen, desto lauter werden die Klänge der weit entfernten Mondscheinsonate. Mit Beethoven strampeln wir hinauf. Zweimal die Morgenplaylist der Grundschule. Bis wir oben sind.

Morgens Landidylle, Mittagessen in einer unbekannten Großstadt, deren Namen wir bald wieder vergessen haben, nachmittags eine Fahrt durch Industriechina, abends ein lauschiges Plätzchen oder ein Versteck unweit der Straße. Eben noch in toller Natur, jetzt inmitten einer Großbaustelle. Bauboom auch auf dem Land- Ärmel werden nicht hochgekrempelt, sondern bekommen Schonstulpen übergezogen. Straßen- und Staudammbau. Männer und Frauen verrichten schwere körperliche Arbeit. Und an hart arbeitenden Menschen scheint es nicht zu fehlen. Überall wird gebaut. Straßen, gigantische Brücken, ganze Ortschaften werden aus dem Boden gestampft. Neben fertig gebauten Vierteln, in denen niemand wohnt, werden noch mehr neue Hochhäuser hochgezogen. Eben noch auf kleinstem Matschweg, fahren wir jetzt auf einer übertrieben breiten Straße, vier Spuren in jede Richtung, bepflanzter Mittelstreifen. Der abgetrennte Radweg wird gefegt. Dabei fährt hier niemand Fahrrad und auch kaum Autos sind unterwegs, denn die Stadt, in die die Straße führt, ist menschenleer. Aus dem Boden gestampfte Geisterstädte, in denen niemand wohnt- ein Phänomen in China. Orte ohne Geschichte und vielleicht auch ohne Zukunft. Ergebnisse von Urbanisierungsplänen und Bauspekulationen.

Guizhou, die Provinz mit den meisten Wolkentagen, macht ihrem Spitznamen „Greyzhou“ alle Ehre und oft sehen wir nichts außer dem dichten, grauen Nebel um uns herum. Das Zelt wird morgens zum nasskalten Paket gefaltet. Die Mittagspause wird jetzt oft Zelt- und Schlafsack- Trockenpause. Der Boden draußen ist so matschig und aufgeweicht, dass wir unser Zelt lieber im leerstehenden, staubigen Rohbau aufbauen. An manchen Tagen erwachen wir erst, als uns die heiße Frühstücksnudelsuppe oder die heiße Sojamilch aus der klammen Kälte herausholt. Täglich fahren wir durch Matschwege und Schlammbaustellen. Ein einziger dicker Matschklumpen zwischen Schutzblech und Reifen erschwert das Radeln. Zwischen Zahnkranz und Kettengliedern schmirgeln die kleinen Steinchen oder sie bringen die Schaltung durcheinander. Manchmal spülen wir mehrmals täglich unsere Räder ab und müssen die Ketten wieder ölen. Während wir kurzzeitig im Matsch versinken, wohnen die Menschen hier dauerhaft im Schlamm. Hauswände sind grau gesprenkelt, Kohl und Zwiebeln mit Straßenmatsch verklebt. Vor jedem Haus der Gartenschlauch, denn die Menschen sind damit beschäftigt, den Schlamm wieder von ihrem Betonvorgarten zurück auf die Straße zu spülen. Auch die vielen Auto- und Rollerwaschplätze führen zu noch mehr Matsch auf der Straße. Um uns herum ein einziger Teufelskreis aus Matsch.

Wenn wir jetzt abends die Chance auf eine günstige Absteige haben, dann nehmen wir sie, genervt von den ständig nasskalten Klamotten. Dann wird so ein Regentag doch noch schön, wenn man mit Mao Xin und dem gackernden Freundinnenhaufen seiner kleinen Schwester durch den Ort stromert, wenn die Kinder aufgeregt und interessiert Fragen über Fragen in die Übersetzungsapp sprechen oder mit uns Englisch üben.