China - Megafone und Marktgewusel


Hörend mitradeln:


Musste das jetzt sein? Schon wieder schmerzt das Ohr von der durchdringenden Hupe. Denn die erste Lektion in der Fahrschule lautet: Hupe so viel und so oft du kannst. In der Kurve überholen? Solange man hupt, kein Problem. Auf der falschen Spur im Gegenverkehr unterwegs? Solange man hupt... Niemals sollte man sich in China ein Haus an einer Kurve bauen und bloß nicht an einem Kreisverkehr. Wir werden andauernd hupend gewarnt, obwohl wir auch so die Autos ankommen hören. Vorm und während des Überholvorgangs hupt es, manchmal gleich vier- oder fünfmal. Teils wird die Hupe gar nicht losgelassen bis das Auto an uns vorbei ist. Insbesondere bei Bussen und LKWs ist das oft schmerzhaft laut.

 

So langsam fühlt sich das „nihao" aus unseren Mündern nicht mehr komisch an. Einige Reaktionen der Menschen sagen da aber was anderes. Nicht selten wird laut aufgelacht oder wir werden von einem wie versteinerten Menschen angestarrt, der Kopf bewegt sich mit, das Gesicht bleibt regungslos. Gerade hier bei dem vielen Mistwetter wünschen wir uns jetzt manchmal die bedingungslose Gastfreundschaft und die Selbstverständlichkeit, mit der uns die Menschen in den letzten Monaten in ihren privaten Raum geladen haben. Es ist kalt und regnet, die Sachen sind noch nass von der letzten Nacht und die Dunkelheit bricht an. Wir werden ans Feuer gebeten, um unsere Hände zu wärmen. Übernachten dürfen wir hier jedoch nicht. Gerade abends auf dem Land, wenn direkt mit dem Einbruch der Dunkelheit die Rolltore runtergelassen werden, ist hier jeder für sich. Menschen in seine eigenen vier Wände zu lassen, ist wohl eher unüblich. Umso merkwürdiger, wenn dann jemand Fremdes ankommt.

 

Doch auch wenn wir in China hinter weniger Haustüren schauen, fühlen wir uns meist sehr willkommen. Wir erleben viele schöne Momente der Gastfreundschaft. Energydrink vom Roller rübergereicht, Schokoriegel aus dem Auto. Nudelsuppeneinladungen- geht aufs Haus- ohne große Überschwänglichkeit. Einladung in die Bauarbeiterbude mit extra vegetarischem Tofugericht und einer Reisschale voll Schnaps. Gemeinsames Teetrinken- durch die chinesische Teekultur eine besondere Zeremonie. Mit vielen, kurzen Aufgüssen, winzigen Teetässchen und viel Schnick Schnack drumherum. In Liuzhi lädt uns Gaoqian zu Frühstück ein und bezahlt uns kurzentschlossen das beste Hotelzimmer der ganzen Reise. Sie fände das toll mit dem Reisen, aber hier in China ginge das nicht. Man müsse sehr viel arbeiten und Geld verdienen. Ob es ihr selber wichtig ist, so viel Geld zu verdienen oder ob sie das macht, weil es von ihr erwartet wird? Sie guckt uns komisch an. Darüber habe sie noch nie nachgedacht. Abends klirren die Gläser Maotai-Schnaps: Wir sind mit Gaoqian und ihren Kollegen Hotpot essen. Alleine würden wir den Ort wohl nie finden: inmitten eines Wohnblocks ein Restaurant in einer Wohnung. Während bei uns die Gläser geleert werden und unentwegt starke Zigaretten qualmen, schaut die Tochter im Durchgangswohnzimmer Fernsehen, auf der Toilette die Familienzahnbürsten. Englisch spricht hier keiner in unserer Runde, aber dafür ist das Telefon wieder im Einsatz. Gemeinsames Liedgut schmettern? Aufgestanden, Hand aufs Herz: "Marsch der Freiwilligen".

 

„Wollen wir zu einem Ort fahren, an dem professionell gesungen wird?“. Wieder ein Wohnhaus. Mit uns im Fahrstuhl ein kleiner Junge in Schuluniform, das rote Tuch noch um den Hals. Siebter Stock: Eine ganze Etage Karaokehölle - Willkommen bei KTV! Unsere kleine Partyrunde wird in einen privaten, überdimensionierten Raum geleitet. Stiegenweise Bier wird gebracht. Jetzt wird sich eingesungen, in ohrenbetäubender Lautstärke. Party- eher weniger- aber bald gehts ja erst so richtig los, gleich startet die große Show. Die Grüppchen aus den vielen Karaokeräumen versammeln sich in der großen Konfettihalle vor der kleinen Bühne, in den Händen der wartenden Partymeute wedeln Chinaflaggen. Die Sicherheitsmänner sind bereit, es kann losgehen. Unter Gekreische und Gejubel ext die erste Freiwillige zwei riesige Biergläser und schmettert ihren Partyhit ins Mikro. Um mich herum jetzt ist die Aufregung groß. Und los, die Sicherheitsmänner geleiten mich zur Bühne, öffnen die rote Absperrung, und sorgen dafür, dass ich sicher ankomme, um mein Lied zu singen. Applaus. Ich werde zurück zu Arne geleitet. Und da stehen wir jetzt, vor uns eine Traube von Menschen, die Fotos mit uns machen wollen. Wir nehmen etwa 50 Leute nacheinander in unsere Mitte. Chinaflaggen werden uns in die Hand gedrückt. Ich muss aufs Klo und allen Ernstes geleitet mich der Sicherheitsmann jetzt auch noch zur Toilette. Jemand hat bereits ins Waschbecken gekotzt. Ein guter Ort, um die Flaggen loszuwerden.

Bei dem Greyzhou-Mistwetter würden wir heute am liebsten den ganzen Tag im Hotelzimmer bleiben, aber da wir keine gute Ausrede haben, um abends nicht wieder zur KTV-Party zu gehen, verabschieden wir uns von der verkaterten Gaoqian.

Wenn man Ruhe sucht, dann sollte man nicht unbedingt nach China fahren. Piepsmusik und Computerstimmen mischen sich in den Alltag. Lautsprecher gehören in jeden Gegenstand. Sprechende Taschenrechner. Singende Straßenreinigungsfahrzeuge. Der Rückwärtsgang der Elektrokarren, ein echter Ohrwurm. Stille oder Vogelgezwitscher? Spätestens da mischt das Mikro vom rollenden Laden dazwischen. Ob Schrotthändler, Obst-und Gemüsekarren oder die fahrende Fleischtheke: Die vielfältigen Megafonstimmen schallen überall und in Dauerschleife. Nicht selten bewegt man sich in chinesischen Orten von Lautsprecherbox zu Lautsprecherbox, mit denen die Klamottenläden auf sich aufmerksam machen. Je lauter Box und Megafon, desto höher die Verkaufschancen. Und plötzlich sind wir wieder drin, inmitten des chinesischen Lautsprecherwirrwarrs des Dorfmarktes. Partymukke am Klamottenstand. Der Verkäufer steht mit Mikrofon 30cm vor den Kunden und erklärt mit voll aufgedrehten Lautsprechern die Vorzüge des Wasserkochers. Den ganzen Tag über stehen die Menschen hier im Wirrwarr der verschiedenen Dauerrschleifen, vollkommen unbeeindruckt von der Geräuschkulisse um sie herum. Die vielen Lautsprecher überlagern sich zur niemals endenen, chinesischen Kakophonie.

 

Die Märkte auf dem Land kündigen sich oft schon lange vorher an. Wir überholen die vereinzelt wandernden Frauen, am Bambustragjoch auf ihren den Schultern baumeln Körbe voller Kräuterbündel und Gemüse. Der Gang federt merkwürdig unter der Last der Trage. Sie kommen von den umliegenden Dörfern, und versuchen, ihr daheim angebautes Gemüse zu verkaufen. Auch in den größeren Städten verkaufen die Frauen ihr Gemüse, kommen von außerhalb mit dem Bus in die Stadt gefahren. Während die Ortsansässigen ihre Waren auf den zentralen Ständen ausgebreitet haben, lassen sich die Dazugekommenen auf dem Straßenbelag nieder. Sie legen die Bambustrage ab und setzen sich mittig zwischen die zwei Körbe. Ohne Megafon.

Begeistert schlendern wir über die chinesischen Märkte, schauen uns all das viele Gemüse an oder die großen Tofublöcke, probieren die vielen Knödel, schauen dem wuseligen Treiben zu, entdecken die feinen Teeverpackungen oder beobachten, wie mit kleinen Handwaagen Ware abgemessen wird.

Die Fleisch- und Fischstände allerdings strotzen stets vor nackter Brutalität. Hier wird gerupft, geschlachtet und gehackt, dass es nur so um sich spritzt. Der entkommene Fisch verschwindet wieder im wild zappelnden, schuppige Durcheinander. In der Schüssel nebenan haben die Fische das Zappeln längst aufgegeben. Aufgeschlitzt und Ausgenommen wird ohne Betäubung. Wasserschlangen gleiten in außergewönlicher Langsamkeit durchs kleine Becken. Fette Kröten verbinden sich zu einem einzigen grossen Krötenknäuel, übereinander aneinander herumglitschend. Drei kleine Wasserschildkröten in der Schüssel daneben. Eine große Weichschildkröte mit spitzer Nase ist allein in ihrer Schüssel. Nebenan wird einer lebenden Schildkröte der Hals derart langgezogen, dass es uns schaurig über den Rücken läuft.

Auf dem kleinen Dorfmarkt bekommt man das geschlachtete Schwein im Ganzen zu kaufen. Jemand verkauft Hähne, die dann kopfüber und lebendig an der Hand des neuen Besitzers baumeln wie Einkaufstüten. Enten, Hühner und Gänse sind in kleine Käfige gestopft. Das Quaken des Vogels wird durch einen Schnitt durch den Hals beendet. Es wird gerupft, von morgens bis abends. Der Asphalt ist Blut- und Federbeklebt. Wie eine dunkle Ankündigung liegen die blank gerupften Tiere auf den Käfigen ihrer Artgenossen. Hackebeile krachen hinab, durchdringen Fleisch und Knochen oder landen dumpf im Baumstamm. Hier in der Markthalle liegen die Schweineköpfe zu Dutzenden auf dem Boden. Einige Hiebe braucht es, um den Schweineschädel zu zerteilen. Fleisch und Knochensplitter spritzen. Das Hirn wird entnommen. Das Gesicht wird abgelöst. Beutel voll Blut, Füße, Schwanz, Kiefer, Darm, Hirn, Magen, Schweinenase. Hühnerkralle. An den chinesischen Fleischständen gibt es alles zu kaufen.

Die Märkte hier bieten, v.a. auf dem Land, weit mehr als Lebensmittel. Klamottenhaufen werden durchwühlt. Der Köhler verkauft seine großen Holzkohlestücken. Die Näherin bringt ihre alte Maschine mittels Fußpedal in Schwung. Der Dorfheiler verkauft Kräuter und selbstgemischte Tinkturen gegen sämtliche Krankheiten. Massagen gibt es auch. Am Zahnstand liegen Zahnreihen aus, hier gibt es Gebisspflege und neue Zähne. Schwarze Haare fallen auf den Asphalt. Buntes Schuhsohlenmuster besticken nach Vorlage – Beschäftigung vieler Frauen hier. Durch das Marktgedrängel vor uns schlängelt sich die blaue Genossenmütze. Auf den Rücken den Einkaufenden die vielen Körbe. Ein Moped hupt sich durch die Menschenmenge. Erst im Dunkeln packen die Marktleute ihre Stände zusammen. Einige machen sich auf den Heimweg, das Tragjoch auf den Schultern. Andere fahren mit dem Bananendreirad davon. Morgen früh sind sie wieder vor allen anderen auf den Beinen. Nach dem langen Markttag flitzen die Ratten aus ihren Ecken, und machen sich über den fleischbesprenkelten Boden her.

Ab heute stehen 10.000 Kilometer auf dem Tacho. Wir radeln in Richtung Guilin, am tief grünen Duliu-Fluss entlang. Viele der kleinen Dörfer am anderen Flussufer sind nur mit Booten erreichbar. Die länglichen Holzboote liegen unten an der Anlegestelle, ein kleiner Weg führt vom Wasser weg in Richtung Dorf und verschwindet in der riesigen Bambushecke. Dahinter sind vereinzelt traditionelle Holzhäuser zu erkennen. Die Pflanzenwelt ist hier ein besonderer Mix aus Bananen, Nadelbäumen, Schilf und Bambus. An steilen Berghängen werden Mandarinen angebaut. Kleine Wasserfälle stürzen Steinwände hinab. Aber führ uns geht jetzt der Weg nicht weiter. Ein Erdrutsch hat die Straße unter sich vergraben. Jetzt wissen wir auch, warum die Frauen uns unten durch den Fluss schicken wollten.

In Longji sind die Reisfelder schon abgeerntet, auf einigen Flächen wird Stroh abgebrannt. Das Grün des Frühjahrs und das Gold des Herbstes sind verschwunden. Die Landschaft ist dennoch eindrucksvoll. Endlos ziehen sich die vielen kleinen Reisterassen die Bergrücken entlang. Hier müssen wir unsere Räder stehen lassen, denn die alten Wege zwischen Terassen sind klein und winden sich oft in Steinstufen die Hänge entlang. Unzählige kleine ebene Flächen wurden hier für den Nassreisanbau geschaffen, viele der Felder werden schon seit über 650 Jahren genutzt. Felder werden mit Wasser geflutet, das stetig und langsam fließende Wasser schützt die Reispflanze vor Unkraut und Schädlingen. Jede noch so kleine kleine Fläche wird bewirtschaftet, einige der Terassen haben lediglich einen halben Meter Tiefe. Diese vielen kleinen und geschwungenen Felder lassen sich nicht mit großen Maschinen bearbeiten. Pflügen, Setzen und Ernten sind Handarbeit. Einige Felder sind bereits wieder geflutet. Der Büffel ist vor den Pflug gespannt, die schwere schlammige Arbeit beginnt. Der Büffel kämpft sich durch den tiefen Matsch, der Bauer stapft hinterher, lenkt den Pflug durch langgezogene Reisfeld. Das Tier schnauft laut und schwer. Innehalten. Wassertrinken. Und weiter gehts. Bis zur nächsten Verschnaufpause. Den ganzen Tag kämpft sich das Zweiergespann vorwärts, alle 30 Sekunden gönnen sie sich eine Verschnaufpause. Büffel und Bauer scheinen so aufeinander abgestimmt, als würden sie so schon viele Jahre zusammen arbeiten. Die Reisterassen hier ziehen Menschen aus aller Welt an. Aussichtsplattformen lassen erahnen, wie viele Menschen sich hier zur Hochsaison tummeln. Die kleinen idyllischen Wanderpfade allerdings sind schmal, steil und nahezu menschenleer.

Guilin und seine Umgebung sind in jedem Reiseführer beschrieben, Touristengruppen aus ganz China reisen hierher. Die Innenstadt Guilins, die Provinzhauptstadt Guanxis, ist mit einer saftigen Portion Kitsch ausgestattet. Die Kombination aus musikspielenden Steine n am Wegesrand, bunten Dekoinseln im Wasser und den vielen Warnschildern nimmt dem See mit seiner Zwillingspagode jedwede Form von Anmut.

Das eigentliche Postkartenmotiv der Umgebung jedoch ist die beeindruckende Karstberge-Landschaft um die Stadt herum. Wir radeln ein wenig südlich von Guilin, mitten in die surreale Landschaft mit ihren Karstkegelbergen. überall stehen hier die vereinzelten Berge, jeder einzelne sticht aus der Ebene empor. Keine Berglandschaft, sondern ein imposantes Formengebilde um uns herum. Die Sonne kommt raus und vor uns erstreckt sich diese magische Landschaft, die jetzt zum Sonnenaufgang im flauschigen Morgennebelbett erwacht. Wir radeln durch kleine Dörfchen inmitten der bewachsenen Berge, verirren uns auf kleinen Wegen inmitten von Gärtchen und genießen die Ruhe weg von Verkaufsmegafonen und außerhalb der Touristensaison.

 

Denn jetzt ist Winter und keine Ferienzeit. Der Winter in Südchina ist kurz und nicht sonderlich kalt. Allerdings bekommen wir einen Eindruck, was es bedeutet, unterhalb der chinesischen Heizungsgrenze zu leben. Denn nur in Nordchina werden die Menschen mit Fernwärme versorgt. Im feuchtwarmen Süden ist jetzt von Wärme nichts zu spüren und die feuchte kalte Luft kriecht unter Klamotten und durch die breiten Tür- und Fensterspalten der Häuser. Die Häuser sind schlecht isoliert, Heizungen gibt es nicht. Und so können Temperaturen um die 5 Grad ziemlich kalt sein, wenn man sich nie so richtig aufwärmen kann. Menschen sitzen eingepackt in ihren dicken Winterklamotten um Heizstrahler oder kleine Heizschalen herum. Sie frösteln Zuhause, in den Büros, auf dem Markt und in der Suppenküche, draußen und drinnen. Da helfen nur Tee, plüschig warme Jacken, Ohrenwärmer, Heizdecken oder eine heiße Guilin-Nudelsuppe über die kalten Tage hinweg, die hier unten immerhin nicht allzu lange andauern.

Wir radeln weiter in Richtung Südosten, die vielen Karstberge begleiten uns noch ein wenig. Jetzt stoppen wir bei Mo Yulin, die hier ihren Zuckerrohrstand aufgebaut hat. Sie schält die Stange und hackt uns je ein Stück ab. Wir kauen auf dem holzigen Zuckerrohr herum. Der süße Saft kleckert, die ausgezutschten Reste spucken wir in den Straßengraben. Ein Jahr braucht es ungefähr, bis die Pflanze erntereif ist. Dann werden die großen Halme abgeschnitten. Hier sehen wir erstmalig bewusst Zuckerrohrfelder, dabei ist es die weltweit wichtigste Nutzpflanze und wird etwa dreimal so viel angebaut wie Reis oder Weizen. Oft haben wir hier unsere bestimmten Pflanzentage. Die Maracujaplantagen liegen bereits hinter uns. Wie große fliegende Teppiche schweben die Pflanzen etwa anderthalb Meter über dem Boden, die grünen Kugeln baumen herab. Auf den Zuckerrohrtag folgt der Kaki-Tag. Unzählige Kakis werden gerade geerntet, geschält und getrocknet. Und ist man auf chinesischen Landstraßen unterwegs, fährt man quasi direkt durch die verschiedenen Produktions- und Lagerstätten. Die Kakis trocknen im Straßenstaub. Einen Tag später befinden wir uns inmitten junger Bambuswälder, die Hügel sind von nichts anderem mehr bewachsen. Nicht ein großer, sondern etliche kleine Betriebe verarbeiten das große Wundergras. Nicht selten wohnen die Menschen direkt neben ihrer Bambuswaschmaschine.

Die Familie unserer heutigen Suppenküche freut sich über die zwei Radtouristen. Wo wir herkommen? Deguo. Fragender Blick. Deguo. Deguo. Es braucht meist mehrere Anläufe, bis wir verstanden werden. Deguo, wiederholt dann unser Gegenüber, als hätten wir das nicht gerade schon dreimal gesagt. Haben wir wohl wieder falsch ausgesprochen. Aber den entscheidenden Unterschied haben wir leider noch nicht ganz ausmachen können. Wir haben erstaunlich wenig Chinesisch gelernt die letzten Wochen. Aber dafür unterhalten wir uns ganz gut. Die Übersetzungsapp ist ein echter Segen und funktioniert erstaunlich gut für einfache Gespräche. Auch wenn wir in China auffällig wenig gefragt werden, das gelte wohl eher als unhöflich, so können doch immerhin wir viele Fragen stellen. Und die Unterhaltungen mit übersetzungsapp sind zudem oft interessanter Zuschauermagnet, insbesondere bei den kleinen Suppenküchen. Und immer wieder kommt auch ein wenig lustig schöner Quatsch bei raus. Zur Verabschiedung wünscht man uns jetzt ein freundliches „Dose“.

 Die übersetzungsapps haben es auch sicher nicht allzu leicht mit der chinesischen Sprache, denn die hat so einige Eigenheiten. Immerhin, die Grammatik ist einfach: keinerlei Flexionen. Keine Wortveränderungen durch Zeit, Person oder Fall. Klang die Sprache doch zunächst gewöhnungsbedürftig, so gefällt uns das melodische Auf und Ab jetzt recht gut. Aber irgendwie klingt das Chinesische immer gleich. Und ist es dabei dennoch nicht. Chinesisch ist eine tonale Sprache, die Betonung ist also besonders wichtig, denn sie ist bedeutungstragend. Je nach Tonhöhe wird beispielsweise aus ma, ma, ma oder ma Mutter, Hanf, Pferd oder schimpfen.

Nur etwa 400 Silben gibt es im Chinesischen, im Deutschen zählt man um die 10.000. Mit den verschiedenen Toenen kommt man auf etwa 1500. Aufgrund der wenigen Silbenauswahl ist das Chinesische ist voll von Teekesselchen und die jeweils richtige Bedeutung eines Wortes wird oft erst aus dem Kontext heraus erkennbar. Was auch immer die Dame uns sagen wollte, wahrscheinlich nicht „Dose“. Dieser Gleichklang ist Ursache jeder Menge Sprachspielereien. Und der Gleichklang ist auch entscheidend fuer Gluecks-und Unglueckszahlen. Die 4 bringt Pech, denn si klingt so wie Tod. Die 8 ba hingegen, steht für Reichtum, denn sie klingt wie das werden in reich werden. Wirklich eindeutig ist das Chinesische nur geschrieben. Wir durchsuchen jede Speisekarte nach zwei Zeichen: Fleisch und Blut. Aber um Zeitung lesen zu können, muss man etwa 2500 Zeichen verstehen. Wohl niemand beherrscht die zwischen fünfzig und sechzigtausend Zeichen, von denen jedes einzelne durch vieles Wiederholen und Wiederholen gelernt werden muss. Wenn man tatsächlich Hochchinesisch spricht, dann heißt das allerdings nicht, das man überall in China von vertrauter Sprache umgeben ist. Denn in China gibt es sowohl viele Sprachen als auch Dialekte.

Auf dem Weg nach Guangzhou werden Ortschaften und Luft wieder grau um uns herum. Immer wieder kramen wir die Atemmasken hervor. Die Orte und Kleinstädte sind oft öde an der Hauptstrasse langgezogen, Farben bringen die vielen gleichen Schuljacken auf den vielen gleichen Fahrrädern auf die Straße. Nur vereinzelt mal sehen wir ältere Höfe oder Häuserreihen. Dann malen wir uns aus, wie es hier früher ausgesehen haben könnte. Alte Strassenzüge sind selten zu finden und stechen hervor, einige sind bei genauerer Betrachtung gar nicht so alt, wie sie auf den ersten Blick scheinen. Einige Häuser altern schneller, viele sind von der Feuchtigkeit dunkel angelaufen. Die wenigen wirklich alten Häuser, die wir sehen, scheinen dem Verfall ausgeliefert zu sein. Wenn sie nicht schon vorher abgerissen werden. Von Bemühungen, diese irgendwie in Stand zu halten, sehen wir nichts. Vermutlich sind sie einfach bald verschwunden.

 

In das Strassengrau mischt sich rot. Besonders die kleinen Dorfstraßen haben wir schon mehrfach in Knallpapier-Rot eingerahmt gesehen. Es knallt schon wieder um uns herum. Dabei sehen wir heute weder eine Dorfhochzeit, noch eine Beerdigung, die üblichen Knallgründe. Es ist Wintersonnenwende. Und heute wird zugelangt in den Ritualartikellädeln. Kerzen, Räucherstäbchen und Höllengeld landen in den Einkaufstüten. Sowohl die traditionell quadratischen Geistergelder mit dem Goldpapier, als auch die modernen Höllengeldscheine mit extrem hohen Geldsummen werden heute den Geistern und Göttern geopfert und verbrannt. Es riecht nach Schwarzpulver. Prost Neujahr. Dabei müssen die Chinesen noch ein wenig warten, bis das neue Jahr beginnt, denn hier markiert das Frühlingsfest den Jahreswechsel. Und der zweite Neumond nach der Wintersonnenwende ist diesmal erst am fünften Februar. Obwohl wir also eigentlich Sylvester in China sein werden, werden wir das chinesische Neujahrsfest, das wichtigste Fest, verpassen. Dann bekommen die Kinder Geld in roten Umschlägen. Dann werden die mittlerweile ausgeblichenen Glückssprüche an den Haustüren gegen neue ausgetauscht. Dann ist wohl ganz China auf dem Weg nach Hause, manche bringen gemietete Lebenspartner mit. Dann ist Familienzeit.

Wir sind in Guangzhou angekommen, der Hauptstadt Guangdongs mit etwa 12 Millionen Einwohnern. Von hier aus ist es nur noch ein Katzenspruch nach Hongkong, oder eine Fährfahrt. Es ist Weihnachten, aber nicht in China. Nur wenige Christen gibt es in China, wobei ja schon die offizielle Angabe von 1,4 Prozent der Bevölkerung dennoch immerhin etwa 19 Millionen Christen bedeuten würde. Aber hier fehlt von Ruhe und Besinnlichkeit jede Spur. Weihnachten und Weihnachtsdeko dient hier nur der Konsumwelt, vor dem Shoppingcenter steht heute ein großer Baum, dazu gibt es eine poppige laute Bühnenparty. In Langfang in der Provinz Hebei wurde Weihnachten aus dem öffentlichen Raum dieses Jahr komplett verbannt. Weder Deko noch Feierlichkeiten sind erlaubt. Hier kommt sowieso keine Weihnachtsstimmung auf, aber doch so etwas wie Zuhause-Gefühle, denn wir kommen bei Bastian, Ming und Baby Merlin unter, einer kleinen deutsch-chinesischen Familie. Hier sind wir umgeben von deutschen Kosmetikartikeln und Babyprodukten. Sogar ein Westpaket trifft ein, mit Knoppers und Schokolade. Obwohl es hier doch nun wirklich nicht mangelt an Produkten, immerhin befinden wir uns jetzt im größten Ballungsraum der Erde und in der „Werkbank der Welt”. Hier, im Perflussdelta reihen sich die Millionenstaedte aneinander. Guangzhou, Foshan, Zhuhai, Dongguan, Shenzen. Wanderarbeiter aus dem ganzen Land kommen hier her zum arbeiten. Mit der Reform- und Oeffnungspolitik seit 1978 unter Deng Xiaoping ist dieses Gebiet von unglaublichem Wirtschaftswachstum und einer extremen Urbanisierung gepraegt. In Shenzhen, die erste Sonderwirtschaftszone Chinas, ist ein eindrucksvolles und extremes Beisspiel der wahnsinnig schnellen Urbanisierung. Zwischen 1980 und heute ist die Einwohnerzahl im Raum Shenzhen von 69.000 auf etwa 11,5 Millionen gewachsen. Die grossen Industrien des Perflussdelta reichen von Elektronik und Telekommunikation über Maschinen, Chemie und Textilien. Etliche Firmen und Investoren haben sich hier niedergelassen.

 

Die einzelnen Millionenstädte dehnen sich aus und der Plan der Verschmelzung dieser grossen Städte zu einer riesigen Megalopolis mit etwa 45 Millionen Einwohnern wird bereits durch Infrastrukturprojekte verwirklicht. Das Gebiet des Perflussdeltas ist wohl eines der weltweit extremsten Beispiele von wahnsinnig schneller Urbanisierung, die auch weiterhin voranschreitet. Das Netz ist voll von beeindruckenden und furchtbar anzusehenden Vor-und Nachher-Vergleichen. Überall schießen riesige, neue Wohnkomplexe in die Höhe. Geld ist kein Problem in China. Den Satz hören wir mehrfach die Tage. Das Perflussdelta mit seinen grösten Städten Guangzhou und Shenzhen ist sicherlich symbolisch für das wahnsinnige Wirtschaftswachstum Chinas. Binnen einer Generation konnte ein riesiger Teil der Bevölkerung aus der Armut geholt werden. Eine beachtliche Leistung. Dennoch sind die Unterschiede zwischen arm und reich unfassbar groß. Auch die verschiedenen Lebenswelten, die wir gesehen haben, könnten unterschiedlicher nicht sein. Während hier am liebsten jeder Müsliriegel online bestellt wird, versorgen sich viele auf dem Land selbst. Hier schießen neue Häuserblöcke, 50 Stockwerke hoch, in die Höhe und wir verirren uns zwischen den gleich aussehenden Blocks der moderner Wohnanlagen. Anderswo leben Menschen in kleinsten Orten, ohne Müllabfuhr, Kanalisation und sauberem Trinkwasser.

 

Wir haben ein vielfältiges und kontrastreiches China kennengelernt. Unterschiedliche Menschen und Sprachen, beeindruckende Natur, zerstörte Landschaften, kleine Orte, riesige Städte und jede Menge Bauboom. Nach elf Wochen in China fallen uns die vielen Überwachungskameras um uns herum kaum noch auf. Aber der Gedanke an Chinas Zukunftspläne von Bürgerüberwachung mittels Gesichtserkennungssoftware und dem Sozialpunktesystem gruselt uns. Und in Kashgar haben wir bereits gesehen, wozu dieses Regime fähig ist. Schauen wir auf die Karte, dann sehen wir, dass wir von diesem riesigen Land nur ein Fitzelchen gesehen haben.