Hongkong


Hörend mitradeln:


Der Menschenstrom schiebt sich von Shenzhen in Richtung Hongkong. Wir und unsere Räder inmitten all der vielen Grenzgänger des Lo Wu Control Point. Routiniertes Abarbeiten von Menschenmassen. Da fahren wir rein in unser erstes großes Ziel, einrädrig. Das Vorderrad muss aus unerklärbaren Sicherheitsgründen abmontiert werden für die eine Pflichtstation mit der Bahn. Stempel in den Pass und raus aus China- also das ist jetzt ja schon noch China- raus aus Festlandchina- rein in die 'Sonderverwaltungszone' Hongkong. „Ein Land, zwei Systeme“, so zumindest wurde es für fünfzig Jahre versprochen damals, 1997, als aus der britischen Kronkolonie die Sonderverwaltungszone Hongkong mit seinen Sonderrechten und Freiheiten wurde. Wirtschaftliche Sonderstellung, Rechtsstaatlichkeit. Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit als britisches Erbe, an dem jedoch immer mehr gekratzt wird.

Wir tauschen unsere Yuan in Hongkong Dollar um. Die Übersetzungsapp brauchen wir ab jetzt nicht mehr, denn viele sprechen neben Kantonesisch auch Englisch. Das Internet ist frei, die große chinesische Firewall wieder verschwunden. Wir radeln rein in die New Territories. Linksverkehr auf den Straßen und kein einziges Auto hupt uns jetzt an. Vom Beton-Dschungel Hongkong ist hier noch nichts zu sehen. Nach der Großstadt Shenzhen nun verlockend grüne Berge um uns herum. Wir radeln hinein in Hongkongs Garten – ein großes grünes Stück Land, das zum Großraum Hongkong gehört: etliche, dicht bewaldete Hügel, Buchten und Strände, Wanderwege. Wir verirren uns im nächstbesten Nationalpark, müssen aber schließlich den viel zu schweren Mountainbiketrail abbrechen, denn wir sind in Tuen Mun mit einem britischen Gentleman verabredet. Tuen Mun, eine Ansammlung riesiger Wohnblöcke. Aus dem Boden gestampft, um den fehlenden Wohnraum in Hongkong City auszugleichen. Freiflächen werden vorbereitet: hier schießt bald der nächste Wohnklotz in die Höhe.

Wir balancieren durch Beete und Autoschrauberbrachen zu Phil. Vier Zimmer, Küche, Bad. Für ihn allein. So viel Platz für nur einen Menschen ist hier eine Seltenheit. Das gibt es unter Normalsterblichen eigentlich nicht, schon gar nicht in der Innenstadt, wo sich standardmäßig ganze Familien ein Zimmer teilen. Die Innenstadt kann sich nicht weiter ausdehnen, grenzt an Wasser und Berge. Zu viele teilen sich den engen Raum. Wohnraum ist kaum verfügbar und erst recht nicht bezahlbar. Junge Menschen können nicht ausziehen von zu Hause, denn sie wissen nicht wohin. Etliche Menschen leben in Hongkongs Innenstadt in versteckten Indoor-Slums, die sich hinter den Fassaden der Hochhausschluchten verstecken. Hunderttausende Cage People wohnen in Käfigen von zwei Quadratmeter Größe. Übereinandergestapelt passen so viele dieser Käfige in einen einzigen Raum. Nichteinmal die Käfigmiete kann sich jeder leisten. Und Platz für Gäste hat verständlicherweise kaum jemand. Wir ziehen also bei Phil ein.

Die schrullige Wohnung Phils mit all den Deckchen, Nippes und Sammlungen verschiedenster Dinge hat schon einige Radreisende gesehen und auch, wenn wir Phils einzige Gäste sind, parken derzeit drei Reiseräder anderer auf seinem Balkon. Ein Zimmer ist geradezu vollgestopft mit Satteltaschen und Gepäck. Phil arbeitet hier als Englischlehrer. Er erzählt vom großen Leistungsdruck und vom Wettbewerb innerhalb der Schülerschaft. Andauernd werden Test geschrieben und jedes Kind weiß genau seinen Platz im öffentlich ausgehängtem Schulranking. Wer einen Test mit 95% bestanden nach Hause bringt, der würde nicht gelobt, sondern gefragt werden, warum nicht die 100% erreicht wurden. Phil hat hier das Privileg, als Muttersprachler Ausnahmeunterricht zu gestalten. Kein Frontalunterricht. Bei ihm im Englischraum müssen die Kinder nicht aufstehen, wenn sie antworten. Dieses sonst so übliche Aufstehen trainierte er den Kindern direkt ab, nachdem ihm der hochschnellende Kopf einer Schülerin schmerzhaft gegen seinen Unterkiefer krachte.

Wir pendeln zwischen Tuen Mun und Hongkong City. Und staunen aus dem Busfenster heraus über die riesigen Hochhäuser, die immer mehr und dichter werden. 50, 60 Stockwerke sind hier keine Seltenheit. Tausende, sich wiederholende Fenster.

Wir verschwinden in einer nie zuvor gesehenen Masse an Wolkenkratzern, im Asphalt- und Betonlabyrinth. In Kowloon, dem nördlichen Kern Hongkongs, wimmelt es von Leuchtreklamen, Werbetafeln und Schildern. Die Lichter der vielen Wechselstuben blinken wild, bunt und unaufhörlich. Auf einmal wieder Grafitti und Street Art. Die Bürgersteige sind eng und bei der Menschenmenge rempeln sich die Fußgänger zwangsweise an. Menschen tummeln sich vor den Fußgängerampeln zu großen Trauben, um dann gemeinsam im Strom weiterzugehen. In Kowloons Straßen wird eingekauft und konsumiert. Die Straßen sind nicht zum genießen da. Sie sind zu eng für Cafétische. Fast keine Grünflächen oder Bänke. In der Stadt sehen wir kaum öffentlich nutzbare Flächen, die die beengten Wohnverhältnisse der Hongkonger ausgleichen könnten. Keine einfachen Wiesen zum Rumlümmeln im Kowloon Stadtpark. Auch hier ist alles vollgestopft: abgegrenzte Spazierpfade, Zierbepflanzungen, großer Teich mit Flamingos. Seifenblasen pusten verboten. Außerhalb der Parkanlagen kaum Bäume. Sitzbankgruppen in den Straßen sind äußerst rar und dann direkt mit einem Schild als „sitting area“ markiert.

Mit Ordnung und Regeln ist das Zusammenleben auf engem Raum reguliert. Rauchverbot auf öffentlichen Plätzen: 1500 HKD Strafe bei Nicht-Einhaltung, umgerechnet etwa 170 Euro. Bei Rot bleibt man stehen. An den Bushaltestellen warten die Menschen in Einer-Reihen in der eingezeichneten Wartefläche, jede Reihe mit der entsprechenden Busnummer markiert. Obwohl die Stadt brechend voll ist, ist sie lange nicht so laut. Die chinesischen Lautsprecher und Megafone sind verschwunden. Auf dem Wochenmarkt können wir das sogar das Kleingeld klimpern hören. Zu den üblichen Angeboten gesellen sich jetzt jede Menge Trockenfisch und Stände voller Opfergaben wie golden bemalte Kokosnüsse oder kleine gefaltete Dinge für die Götter. Die Luft im Tin Hau Tempel ist zum zerschneiden dick. Riesige Räucherspiralen hängen an der Decke. Im Tempel das geschäftige Treiben von Gläubigen, die hier ihre lange Liste an Opfergaben abarbeiten. Minischreine sind bunt in der Stadt verteilt. Wir laufen zum Fährhafen, vorbei an unzähligen Markenläden und Juwelieren. Menschen sind im Shoppingrausch. Pendler aus Festlandchina kaufen kofferweise ein.

Die alte Fähre verbindet das nördliche Kowloon mit dem Zentrum auf Hongkong Island. Die Fahrt ist kurz zum Victoriaharbour. Die erste Reihe Wolkenkratzer steht auf neu aufgeschüttetem Land, die alte Uferpromenade ist nach hinten gerückt und zwischen Hochhäusern verschwunden. Die Finanzwelt präsentiert hier ihre Macht durch montröse, phallusartigen Riesenbauten mit nichtssagenden Fassaden. Fußgängerwege schweben ein Stockwerk über dem Verkehr, kreuzen Straßen oder durchqueren Einkaufszentren. Bei schlechtem Wetter kommt man zu Fuß trocken durch das Stadtviertel. Rolltreppen verbinden das Zentrum mit den höher gelegen Wohnungen. Der Central-Mid-Levels-Escalator bringt die Menschen morgens runter zur Arbeit und fährt nachmittags in die andere Richtung zurück. Unbeirrt von alldem rattert die alte britische Straßenbahn durch die Hochhausschluchten des Zentrums. Geschichte sieht man der Stadt kaum an. Die wenigen, vereinzelt verstreuten Gebäude aus der Kolonialzeit wirken wie deplatziert. Die Zeit, in der der Kirchturm der St. Johns Kathedrale aus der Stadt emporragte, ist nur noch schwer vorstellbar angesichts der Hochhausmassen.

Es ist Sonntag. Der einzig freie Tag für die etwa 370.000 Foreign domestic helpers, die hier einfach nur maids, 'Hausmädchen', genannt werden. Die meisten kommen von den Phillipinen oder aus Indonesien. Eine alte Frau verkauft Pappkartons an die vielen Frauen, die sich heute, wie jeden Sonntag, irgendwo hier auf den Plätzen, Bürgersteigen, auf Über- und Unterführungen auf denn Pappen niederlassen und den freien Tag genießen. Mitten im Central District, zu Füßen der riesigen Finanztürme und vor golden schimmernden Luxusläden breiten sich tausende Frauen aus, schirmen ihre Runden mit Pappwänden und aufgespannten Regenschirmen ab. Zwischen Säulen und über Geländer sind Vorhänge gespannt. Schuhe ausziehen, ab auf die Pappe. Picknick. Sonntagsgammeln. Die Frauen liegen aneinandergelehnt da, massieren sich gegenseitig die verspannten Nacken, verpassen sich Fußmassagen und Pediküren. Das Miteinander ist liebevoll. Viel Körperkontakt. Laut. Lebendig. Sie begutachten die Ware der vorbeiziehenden Händler, die hier ihre Billigklamotten unter die Frauen bringen wollen. Manche tanzen gemeinsam das Musikvideo nach, das auf dem kleinen Telefondisplay läuft. Oder sie videotelefonieren mit ihren Familien zu Hause. Viele haben eigene Kinder in der Heimat. Aber Arbeit gibt es zu Hause keine, dafür Kurse für zukünftige Hausangestellte im Ausland: Englisch, kochen und putzen lernen. Jetzt putzen und kochen sie hier in anderen Wohnungen, holen fremde Kinder von der Schule ab und gehen mit Hunden Gassi, die nicht sie sich angeschafft haben.

Heute lassen die Frauen die lange Arbeitswoche hinter sich. Die Damen, mit denen wir uns unterhalten, treffen sich hier jede Woche auf dem Fußgängerweg. In den Parks dürfen sie nicht sitzen. Sheila ist schon seit 25 Jahren hier. Das Kind, für das sie wie eine Mutter war, studiert mittlerweile. Sie will bald wieder nach Hause. Alle zwei Jahre wird den Frauen ein Flug nach Hause bezahlt. Gesetzlich vorgeschrieben. Wie der eine freie Tag in der Woche. Diese Frauen sind zufrieden mit ihren Familien. Aber hier soll es auch anders zugehen. Wir lesen von Videoüberwachung der Hausangestellten, von Frauen, die in der Küche oder auf dem Badezimmerfußboden schlafen müssen, von Gewalt und moderner Sklaverei. Skurril diese Ansammlung der vielen Frauen und symbolisch diese wöchentliche Versammlung der Unteren vor den Häusern der Obersten. Arm und Reich sind hier dicht beieinander. Die teuersten Wohnungen der Welt und Menschen, die in Käfigen wohnen. Knapper Wohnraum. Riesige soziale Probleme. Prunk und Luxus.

Vom Victoria Peak aus bekommt man von all dem nichts mit. Die Grenze zwischen Beton und Wald kommt abrupt. 550 m über der Großstadt ist wieder alles grün. Die riesigen Hochhäuser verschwimmen jetzt im Wolkendunst.

Unsere Räder sind auseinandergebaut, gründlich gereinigt und in große Kartons gepackt. Den Flug bekommen wir nur, weil Kin, den wir gerade kennenlernen, uns spontan ein Taxi ordert. Bis heute weigert er sich, das Geld dafür von uns anzunehmen.

885 km/h. 11.887m Höhe. Wir fliegen. Nach zehn Monaten Schneckentempo und Bodenkontakt ein komisches Gefühl. Ein Film, zwei Mahlzeiten, ein Schläfchen und kein Blick nach draußen. Durch die Luft nach Neuseeland.